Sind die Grünen die deutschen Neocons?

Stichwort Transatlantismus

Kolumne

Anfang 1972 beschloss eine Innenministerkonferenz Berufsverbote für DKP-Mitglieder. Im April 1972 scheiterte das Misstrauensvotum gegen die Regierung Brandt. Im Mai ratifizierte der Bundestag die Verträge von Moskau und Warschau. Im Dezember wurde die DDR anerkannt. Mit dem Berufsverbote-Erlass wollte die SPD „dokumentieren, dass außenpolitische Realpolitik, d. h. Verständigung mit dem Osten, keinesfalls identisch mit einem besseren inneren Verhältnis zu Kommunisten sei“ (Dietrich Thränhardt). Hunderttausende nahmen an Massenaktionen gegen das Misstrauensvotum teil und es kam erneut zur Aktionseinheit von Kommunisten und Sozialdemokraten. Ebenfalls 1972 gründete Willy Brandt mit US-amerikanischen Partnern den Thinktank German Marshall Fund of the United States (GMF).

Der GMF soll laut Webseite mit Leadership-Programmen „die nächste Generation von Führern diesseits und jenseits des Atlantik kultivieren“ (heranzüchten). Angesichts der NATO-Kritik der 1968er-Generation und ihrer Anhänger überließ man die Formung der deutschen Funktionseliten 1972 nicht mehr dem Selbstlauf. Mit Stipendien, Projekten in den USA und Europa, mit dem Knüpfen von Netzwerken und Kontakten zu etablierten Alumni (Ehemaligen) greifen Leadership-Programme karrierebewussten jungen Menschen beim Aufstieg unter die Arme.

Eine Auswahl der Geförderten des GMF nennt die Enzyklopädie Wikipedia. Darunter sind Ministerin Annalena Baerbock (Grüne), Staatssekretär Niels Annen (SPD), Staatssekretärin Kerstin Griese (SPD), die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD), der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe Sascha Müller-Kraenner (Grüne), Minister Cem Özdemir (Grüne), die Bundestagsausschussvorsitzende Tabea Rößner (Grüne), der Vorstand der Bürgerbewegung für Finanzwende Gerhard Schick (Grüne) und die aus Talk-Shows bekannte Berufs-Transatlantikerin Constanze Stelzenmüller, die einer ganzen Latte von Thinktanks angehört.

Einige der Genannten absolvierten zugleich Leadership-Programme der Atlantikbrücke und/oder des World Economic Forum (WEF). Baerbock war 2020 Young Leader des WEF. Niels Annen ist Alumnus bei der Atlantikbrücke, ebenso Matthias Döpfner (Axel Springer Verlag), Graf Lambsdorff (FDP), Jens Spahn (CDU) und andere. Es gibt auch Stipendien-Programme der Parteistiftungen. Der Neoliberalismus bescherte so vielen Milliardären überschüssiges Geld für Spenden und Stiftungen, dass es unmöglich geworden ist, alle Thinktanks und Leadership-Programme zu überblicken.

Nicht nur Thinktanks und ideologische Apparate fördern die extrem transatlantische Ausrichtung neuer Politikergenerationen. Ihr liegen auch soziale und politische Verschiebungen der letzten Jahrzehnte zugrunde. Bis in die 1980er wurden die Grünen hauptsächlich von Studenten und noch nicht etablierten Akademikern gewählt. Inzwischen schwollen die Mittelschichten zu einer zahlenmäßig starken Schicht an, deren oberes Segment zu den Besserverdienenden zählt, ob im Öffentlichen Dienst, der Privatwirtschaft oder als Selbstständige. Bei den Gutsituierten kommt die Erzählung der Neocons von der „liberalen Demokratie als Ziel und Ende der Geschichte“ gut an.

Mehr als die Hälfte der Grünen-Wähler befürwortet laut Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung militärische Eingriffe in Konflikte. Ebenso wolle die Grünen-Wählerschaft eine Außenpolitik, die Werte über Interessen stellt, trotz möglicher negativer Folgen. Die Grünen-Wähler seien „weit eingriffsfreudiger“ als die aller anderen Parteien. Vielleicht, weil sie „negative Folgen“ für sich nicht befürchten? In den Allmachtsphantasien grüner deutscher Neocons ist die EU Großmacht, kann mit Sanktionen Russland „zerstören“ und wahrt in „Führungspartnerschaft“ mit den USA die Vorherrschaft des Westens. Die US-Neocons sind so ehrlich, das „Imperialismus“ zu nennen.

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"Stichwort Transatlantismus", UZ vom 13. Januar 2023



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