Die ideologische Verarbeitung von Corona

„Sternstunde“ der Philosophen

Jürgen Meier
Nietzsche187a - „Sternstunde“ der Philosophen - Philosophie - Hintergrund
Friedrich Nietzsche um 1875

Während besonders die Virologen um die Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeit des Virus kritisch forschen, bemühen sich bürgerliche Philosophen um die Verschleierung der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die auch im Umgang mit der Pandemie zu Tage tritt.
Da sind zum Beispiel die Forscher um Wei Ji von der Universität in Peking. Sie veröffentlichten im „Journal of Medical Virology“ eine Studie, in der sie das Genom von 2019-nCoV mit 217 ähnlichen Viren verglichen. Demzufolge habe das Virus Ähnlichkeit mit bereits in Fledermäusen gefundenen Viren. Als Wirte kämen aber nur Schlangen infrage, von diesen sei der Erreger auf den Menschen übergesprungen. Peter Rabinowitz von der University of Washington in Seattle unterstützt diese Theorie, die vom deutschen Virologen Schmidt-Chanasit abgelehnt wird, da als Überträger auf den Menschen nur Säugetiere in Frage kämen.
Während die Biologie forscht, ist ein weltweiter Kampf um dringend benötigte Ressourcen, etwa Schutzkleidung und Desinfektionsmittel, entbrannt. Diese Alltagsprodukte werden inzwischen zu Wucherpreisen angeboten. Kapitalismus macht es möglich.

Fortsetzung des ideologischen Klassenkampfes

In einer Reihe von Twitter-Botschaften behauptete die chinesische Botschaft in Paris, das Virus sei womöglich bereits im vergangenen September in den USA aufgetreten. Während Trump vom „China-Virus“ spricht, das die Welt vergifte, wirft China den USA vor, verschwiegen zu haben, dass das Virus bereits im September in den USA aufgetreten sei. „Wann gab es den Patienten Null in den USA? Wie viele Menschen sind infiziert? Wie heißen die Krankenhäuser? Es könnte die US-Armee sein, die die Epidemie nach Wuhan gebracht hat. Seid transparent! Machen Sie Ihre Daten öffentlich! Die USA schulden uns eine Erklärung!“, schrieb der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Zhao Lijian. Und in einem Tweet der chinesischen Botschaft in Paris heißt es: „Wie viele Fälle von Covid-19 gab es unter den 20.000 Todesfällen durch die Grippe (in den USA) seit vergangenem September?“ Die US-Armee hätte das Virus bei ihrer Teilnahme an den Military World Games in Wuhan im Oktober eingeschleppt.

Der Chef der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, erklärt, das Coronavirus könnte ein „biologischer Angriff der USA“ sein. Ajatollah Ali Chamenei: „Es besteht die Eventualität, dass die Verbreitung des Coronavirus im Iran ein biologischer Angriff ist.“ Natürlich lassen sich solche Behauptungen schnell als „Verschwörungstheorien“ vom Tisch wischen, aber liegen sie nicht durchaus im Bereich des Möglichen?

Suche nach Orientierung

Das Virus ist in der Welt. Die Klassenkämpfe hebt es nicht auf, sondern gebiert in den Köpfen der Menschen Sehnsüchte nach einer Weltanschauung, die von Ängsten befreit und die dem vereinzelten Leben einen Sinn zu geben vermag.

In der brasilianischen Stadt Porto Alegre hatte die „Catedral global do Espírito Santo“ in einer Online-Broschüre mit der „Kraft Gottes gegen das Coronavirus“ geworben. Sie versprach ihren Gläubigen „eine Salbung mit geweihtem Öl“, das „gegen Epidemien, Viren oder Krankheiten immun macht“. In den USA geißelte ein evangelikaler Pastor Corona als Strafe Gottes für Homosexualität und für Man-Hee Lee, Gründer der christlich-fundamentalistischen „Shincheonji Church of Jesus“ im südkoreanischen Degu, ist das Coronavirus das „Werk des Teufels“, das die Ausweitung seiner Kirche verhindern will. Dagegen war der Aufruf des Papstes an Italiens Priester ein Aufruf zur tätigen Nächstenliebe: „Mögen Sie den Mut haben, hinauszugehen zu den Erkrankten, um ihnen die Kraft des Wortes Gottes und die Eucharistie zu bringen.“ Mindestens 50 Priester sind in Italien bereits an den Folgen der Viruserkrankung gestorben. Viele der Opfer waren dem Appell von Franziskus gefolgt und wollten den Menschen in schwerer Zeit beistehen.

Angebot der bürgerlichen Philosophie

Während katholische Priester sich als Diener Gottes ins weltliche Leben einmischen, präsentieren Philosophen mit smartem Lächeln ihre nihilistische Weltanschauung. Im „Philosophischen Tagebuch“, täglich um 19.20 Uhr auf 3Sat, toben sich die modernen Existenzialisten in jeweils zwei bis drei Minuten aus, um uns die Welt jetzt und nach dem Virus zu erklären. Markus Gabriel, Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie, fragt seine Zuschauer, ob es sinnvoll sei, die „Privatheit unserer Gesundheitsdaten (Handy) zum Schutz der Herde preiszugeben“. Nietzsche, der Vordenker der faschistischen Rassentheoretiker, stellte dem „Herdenmenschen“ den „Übermenschen“ gegenüber, der bei Hitler zum arischen Kulturträger wurde. Gabriel wünscht sich einen „moralischen“ Übermenschen herbei. Auch in diesem Punkt treu mit Nietzsche verbunden, fordert er zu diesem Zweck den „Anstoß einer neuen Aufklärung“, die allein auf „moralischer Einsicht“ fußen soll. Da die herrschende Moral immer die Moral der herrschenden „Übermenschen“ (Elite) ist und diese auch im Zeitalter der Seuche imperialistische Monopolakteure bleiben, schlüpft Gabriel in die Rolle des indirekten Apologeten des Imperialismus. Das macht er so: „Wir sitzen alle im selben Boot … (!) Das Virus offenbart lediglich dasjenige, was längst der Fall ist: Dass wir eine völlig neue Idee einer globalen Aufklärung brauchen … Wir brauchen keinen Kommunismus, sondern einen Ko-Immunismus … Wir brauchen eine neue Aufklärung, jeder Mensch muss ethisch ausgebildet werden, damit wir die gigantische Gefahrenlage erkennen, die darin liegt, dass wir blind der Naturwissenschaft und Technik folgen … Rassismus und Nationalismus im Kampf gegen die Migranten“ seien entstanden, „weil wir ihren Henkern die Waffen und die Wissenschaft für Chemiewaffen geliefert haben“. Nicht „wir“ lieferten die Waffen, sondern europäische, US-amerikanische Bomber zerstörten Staaten, Gabriel nennt jene „Henker“, die sich weigerten, Erfüllungsgehilfen der Imperialisten zu sein. Wie einst Sartre versucht Gabriel mit scheinbarer Entrüstung über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, alles zu tun, um zu verhindern, dass der Marxismus zur Methode menschlichen Denkens wird. Unsere Gläubigkeit an die Naturwissenschaft und Technik seien schuld daran, dass die Weltordnung erschüttert ist. Es ist also nicht die kapitalistische Gier nach Extraprofit, die den Preis für einen Mundschutz in Zeiten der Seuche um 3.000 Prozent in die Höhe trieb? „Nach der virologischen Pandemie (müsse.) eine metaphysische Pan-Demie“ folgen, „eine Versammlung aller Völker unter dem uns alle umfassenden Dach des Himmels, dem wir niemals entrinnen werden“. Die Übermensch-Verseuchung durch eine Moral, die die Vernunft zerstört, soll uns also retten! Bitte nicht!

Moralapostel des Imperialismus

Mit der gleichen Mission, den Imperialismus indirekt zu befürworten und als alternativlos darzustellen, tritt der Philosoph Philipp Hübl vor die Kamera und fordert „globale Verbundenheit, mehr Vertrauen, mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und „globale Solidarität“. Und wenn er sagt, „Wir haben zudem die Fähigkeit, uns die Grundprinzipien der Vernunft zu vergegenwärtigen, indem wir unser Denken selbstbezüglich auf uns richten“, dann zerstört er die Vernunft, die statt „selbstbezüglich“ nur mit Erkenntnis der konkreten Wirklichkeit des Ganzen der Menschengattung zur Entfaltung kommt. Selbstbezüglich kann die Welt nicht erkannt und nicht im Sinne der Menschlichkeit verändert werden. Wer von Vernunft spricht, sollte über den Imperialismus nicht schweigen.
Der Philosoph Richard David Precht ärgert sich, dass der Staat mit Verboten in das Alltagsleben eingreift, obwohl es „keine Bedrohungen“ für die Menschen geben würde. Wir lebten halt in einer „Erregungsgesellschaft“, wo der Einzelne mehr um sein eigenes Leben fürchte statt um das der Menschheit. Die Klimakatastrophe bedrohe uns alle, aber die Coronaviren seien nur für die Schwachen eine Gefahr. Da er nicht schwach sei, fühle er sich sicher. Mehr Zynismus geht nicht in Anbetracht der italienischen Situation. Precht zieht einen dicken Strich zwischen Mensch und Menschheit, statt die dialektische Einheit zwischen beiden zu erkennen. Wenn der Mensch vor einem Virus Angst hat, das sein Leben bedroht, will er dagegen kämpfen. Er tut dies stets mit anderen, die in Krankenhäusern, in der Familie und Nachbarschaft mit ihm sind. Er tut dies in China, Europa, den USA und Afrika. Die Menschheit besteht aus vielen einzelnen Menschen. Diese sind es, die die Widersprüche in der Virologie und im Leben überhaupt als Subjekte erkennen können und die aus dieser Erkenntnis den Fortschritt der ganzen Menschheit gestalten können.

Home-Office, die Alternative zum Kapitalismus

Seine Kollegin Svenja Flaßpöhler kommt in Anbetracht der „Ausgehverbote“ regelrecht ins Schwärmen: „Der Stillstand schenkt uns einen Denkraum … Jetzt merken wir, wie wichtig das Kümmern, Sorgen und Verpflegen ist. Und gleichzeitig realisieren wir eben auch, wie sehr unser ganzes System darauf angelegt ist, dass wir konsumieren und produzieren, um diese Endlosschleife am Laufen zu halten. Jetzt merken wir, wie fragil dieses kapitalistische System ist und dass es möglicherweise nun angezeigt ist, diese Hierarchie ganz neu zu denken“ … da man bisher „die Produktion über die Reproduktion gestellt hat“. Sie will also die Reproduktion über die Produktion stellen! Der Kapitalismus produziert stets, das ist sein Gesetz, für einen abstrakten Markt, auf dem er nicht nur die Konkurrenz mit allen Mitteln (Korruption, Werbung, Monopolpreise, Krieg) vernichten muss, sondern auch viele einzelne Konsumenten für seine Waren gewinnen muss, um den Mehrwert, der allein in der Produktion entsteht, zu realisieren. Das will die Philosophin natürlich nicht ändern, denn wir brauchen nicht „den antikapitalistischen Kampf und die große Revolution. Aber wir können natürlich einzelne Elemente innerhalb dieses Systems neu denken … Und da gehören Home-Office, größere Flexibilität und Familienvereinbarkeit absolut dazu. Es ist sträflich, wie manche Institutionen und Arbeitgeber sich dagegen sperren und immer noch das Gefühl haben, ihre Mitarbeiter überwachen zu müssen. Das ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß.“ Wie Precht wünscht sie sich einen „grünen Kapitalismus“ mit viel Heimarbeit, bei der nicht mehr die Stechuhr, sondern die Einzelnen sich selbst unter Leistungsdruck setzen. Das freut den modernen Kapitalisten.

Tödliche Philosophie

So könnten alle Menschen glücklich werden, denn man müsse den „antiken Glücksbegriff genauer ansehen“, für den nur ein moralisches Leben ein gutes Leben war. Moral bedeutet, dass ich mich verantwortlich zum Gesellschaftsleben verhalten muss. Das scheint für die Philosophin überholt zu sein. Sie plädiert für ein glückvolles Leben, das sich allein auf die eigene Existenz, die sich auf die „Momente existenzieller Ausgesetztheit an ein Nichts“ spüren muss, konzentriert. „Uns wird also in diesen ganz stillen Momenten, wenn wir eben allein im Zimmer sitzen, unsere Vergänglichkeit bewusst: Wir sind vom Tod umgeben, der auf uns wartet.“ Ihr geistiger Vater ist kein geringer als der Nazi-Rektor der Freiburger Universität, Heidegger, der seine Studenten zur Wahlurne führte, um für den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund zu stimmen. Der abstrakte Tod wird dem sinnlosen Leben gegenübergestellt. Die Perspektivlosigkeit des einzelnen Lebens, in der sich viele Intellektuelle heute befinden, wird zum Mythos des Nichts aufgeblasen. Der eigene Tod wird zur Krönungsfeier der wirklichen Existenz. Vielen Intellektuellen in ihrer Besinnung auf sich selbst wird das gefallen.
Da sollten wir uns doch lieber an die antiken Glücksphilosophen halten. Spinoza sagte, „Der freie Mensch denkt an alles andere eher als an den Tod; seine Weisheit ist nicht der Tod, sondern sein Grübeln über das Leben“. Für Heidegger wie später für Sartre, jetzt für Flaßpöhler, bedeutet das Leben aber nicht „Grübeln über das Leben“, sondern ist nur die „Geworfenheit in das Nichts“. Hinter derartig geschwollenen Phrasen steckt nicht mehr und nicht weniger als die Aussage, dass man über den Menschen, über die Gesellschaft, über die Zukunft nichts wissen kann und dass der Kapitalismus alternativlos ist.

Die Menschen, die in den Krankenhäusern arbeiten, interessieren sich nicht für die entgangenen Profite von Dax-Konzernen, die ihre Arbeitskraft kaufen. Sie handeln sozial! Hinter sozial verbirgt sich das Substantiv Sozialismus! Welcher Ärztin, welchem Pfleger kommt in Zeiten der Seuche nicht der Gedanke, warum das Gesundheitssystem, wie das ganze gesellschaftliche System überhaupt, nicht klaren sozialen Kriterien folgt?

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"„Sternstunde“ der Philosophen", UZ vom 17. April 2020



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