Orhan Akman liest Yuval Noah Hararis „Nexus“ – zwischen Taschkent, Samarkand, Duschanbe und Istanbul

Steile Thesen im Sinkflug

Orhan Akman

Im Herbst 2024 unterhalte ich mich am Rande einer Sitzung mit einem Vertreter eines großen deutschen Unternehmens, den ich seit längerem kenne und durchaus schätze. Dabei tauschen wir uns, wie so oft, über unsere unterschiedlichen Blickwinkel zu vielen Themen aus, darunter Tarifpolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Sozialismus versus Kapitalismus, der aktuelle Krieg in der Ukraine und Konflikte im mittleren Osten.

„Ich habe kürzlich ein Buch gelesen, welches ich Ihnen sehr empfehlen möchte,“ sagt der Unternehmensvertreter zu mir, und fügt sehr überzeugt hinzu: „Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie sicherlich überdenken, ob Sie sich noch als Marxist oder Sozialist sehen!“ Das sei eine sehr mutige und provozierende These, lasse ich meinem Gesprächspartner wissen.

Noch am selben Abend erhalte ich von ihm den Link zu besagtem Buch, nachdem ich verspreche, das Buch zu lesen und ihm danach Rückmeldung zu geben.

„Nexus“ heißt das Buch. Yuval Noah Harari hat es geschrieben. Der Untertitel: „Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz“.

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Sonnenuntergang über dem Bosporus (Foto: Orhan Akman)

Ich sitze im Flugzeug von Hannover über Istanbul nach Taschkent, als ich das Buch aufschlage. Entlang einiger Stationen der historischen Seidenstraße werde ich Usbekistan und Tadschikistan besuchen und nach einem Aufenthalt in Istanbul zurückkehren. Einst brachte die Seidenstraße, ein großes Netzwerk zum Austausch von Informationen und Waren, viele wertvolle Güter und Wissen von Ost nach West, vorwiegend in die Paläste und Königshäuser Europas. Heute plant und baut die Kommunistische Partei Chinas die Neue Seidenstraße – eine moderne Vision dieses Netzwerks zwischen der Produktions- und Werkbank China und vielen Märkten in Asien, Europa, im Orient und Afrika.

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Tafel für die alte Seidenstraße an einer Wand in Samarkand (Foto: Orhan Akman)

Im Prolog lässt Harari seine Leser wissen: „Unsere mit Mängeln behaftete individuelle Psyche bringt uns dazu, Macht zu missbrauchen. Doch diese holzschnittartige Analyse übersieht, dass Macht nie das Resultat der Initiative von Einzelnen ist. Macht ergibt sich immer aus der Zusammenarbeit einer Vielzahl von Menschen. (…) Die zentrale These dieses Buches ist, dass die Menschheit gewaltige Macht erwirbt, indem sie kooperative Netzwerke aufbaut, dass jedoch die Konstruktionsweise dieser Netze dem unklugen Gebrauch dieser Macht Vorschub leistet.“

Als Geschichte der Informationsnetzwerke der Menschheit ist das Buch sehr informativ und gibt viele Beispiele zu deren Entwicklung, gepaart immer wieder mit der aktuellen Digitalisierung, Automatisierung und Künstlichen Intelligenz. Harari informiert seine Leser zum einen über den aktuellen Stand der neuen Technologien und Algorithmen, zum anderen wagt er einen Blick in die mögliche Zukunft der Menschheit vs. Computer.

„Nicht jeder von uns kann KI-Experte werden, doch wir sollten nie vergessen, dass KI die erste Technologie der Geschichte ist, die eigenständige Entscheidungen treffen und Ideen hervorbringen kann. (…) KI ist kein Werkzeug, KI ist ein Akteur.“ Obwohl Harari diese These an vielen Stellen vorsichtig relativiert, ist das der eigentliche rote Faden und schon die (Vor-)Warnung zu Beginn der Lektüre.

Der Autor ist Anti-Marxist und Anti-Kommunist, das wird eingangs klar. Auch der immer wieder bemühte Vergleich zwischen Rechten und Faschisten auf der einen und Marxisten und Linken im weitesten Sinne auf der anderen Seite werfen einen Schatten auf die Einschätzungen des Autors und lassen an dessen Wissenschaftlichkeit zweifeln. So setzt Harari das „machtzentrierte und skeptische Informationsverständnis“ von Impfgegnern, Klimaleugnern oder Anhängern von Jair Bolsonaro und Donald Trump mit dem Weltbild und Ansichten von Linken wie Michel Foucault, Edward Said bis hin zu Karl Marx gleich. So behauptet der Autor: „Diese konkrete Linie des linken Denkens geht zurück auf das 19. Jahrhundert und Karl Marx, der behauptete, Macht sei die einzige Realität, Information sei eine Waffe und Eliten, die vorgeblich der Wahrheit und Gerechtigkeit dienten, handelten in Wirklichkeit nur im Dienste der Privilegien ihrer Klasse.“ Unmittelbar danach zitiert Harari aus dem „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels von 1848: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“

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Moderne Hochgeschwindigkeitszüge am Hauptbahnhof von Samarkand (Foto: Orhan Akman)

Apropos Klasse: Um von Taschkent nach Samarkand zu gelangen, kaufe ich mir eine Fahrkarte der zweiten Klasse. Der Zug fährt pünktlich los und kommt auch pünktlich an. Die Tickets werden an den Wagontüren kontrolliert. Schon vorher werden alle Fahrgäste samt ihrem Gepäck einem Sicherheits-Check unterzogen, am Haupteingang des Bahnhofs, wie in Flughägen. In Usbekistan scheint dieses bürokratische System zu funktionieren. Diesen Eindruck gewinne ich auch in Duschanbe, der Hauptstadt von Tadschikistan. Dort ist fast jedes zweite Taxi mittlerweile ein Elektroauto. Ich muss schmunzeln, als ich im Buch die Erläuterung zu „Bürokratie“ nachlese und mir die berechtigte Debatte zur Überbürokratisierung in Deutschland in Erinnerung kommt: „Bürokratie bedeutet wörtlich ‚die Herrschaft des Schreibtischs‘. Der Begriff wurde im Frankreich des 18. Jahrhunderts erfunden, als Beamte an einem Schreibtisch mit Schubladen saßen – einem bureau.“

Ganz ohne Bürokratie geht es hier auch nicht. Obwohl man als Tourist mit deutschem Pass für Usbekistan und Tadschikistan kein Visum braucht, müssen sich ausländische Staatsangehörige im jeweiligen Stadtbezirk melden, sobald man dort eintrifft – in Usbekistan bei der UVViOG (Verwaltung für Ein-/Ausreise und Staatsbürgerschaft), und in Tadschikistan bei der Registrierungsstelle OVIR (Abteilung für Visa und Registrierung). Ohne Registrierung drohen Ausreiseverzögerungen und Strafgelder. Tatsächlich wird, als ich mit dem Zug die Grenze von Usbekistan nach Tadschikistan überquere, seitens der Grenzpolizei und der Gendarmerie dem Registrierungsnachweis mindestens der gleiche Wert beigemessen wie meinem Pass.

Kurz vor meiner Ankunft in Duschanbe sehe ich aus dem Zugfenster ein riesengroßes Lenin-Denkmal. Während Lenin draußen der eisigen Kälte Widerstand leistet, kämpfe ich mich durch das verkürzte und verzerrte Bild, das Autor Harari vom Marxismus zeichnet. Er behauptet, dass den marxistischen Theorien zufolge religiöse, nationalistische oder liberale Vorstellungen bei Kreuzzügen, im Ersten Weltkrieg oder im Irak-Krieg keine Rolle gespielt hätten. Der Autor gibt zwar den Marxisten im nächsten Atemzug recht, dass bei Kriegen und Konflikten vordergründig die wirtschaftlichen und materiellen Interessen eine zentrale Rolle spielten, bezeichnet sie aber als „zynisch“, weil für sie angeblich „Erzählungen über Gott, Vaterland oder Demokratie“ keine Rolle spielen würden. Er belegt das nicht. Harari geht noch einen Schritt weiter und setzt die sowjetische Kollektivierung der Landwirtschaft mit der Hexenjagd in Europa gleich.

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Denkmal in Taschkent auf menschenleerem Platz (Foto: Orhan Akman)

In Usbekistan und Tadschikistan, diesen beiden einstigen Sozialistischen Sowjetrepubliken, bin ich keinem Protestmarsch, keiner Demonstration oder sonstiger Aktion begegnet, obwohl beide Länder laut Harari „Demokratien“ sind. Großen Menschenmengen bin ich nur nach dem Freitagsgebet begegnet, bei dem die Frommen ihrem (eher liberal gelebten) Glauben nachgehen.

Eine Diktatur sei „ein zentralisiertes Informationsnetzwerk ohne Selbstkorrekturmechanismen“, so Harari, der die bürgerliche Demokratie als „ein dezentrales Informationsnetzwerk mit starken Selbstkorrekturmechanismen“ bezeichnet. Für Harari gehört sogar Ausbeutung der Vergangenheit an: „Natürlich ist Ordnung an sich nicht unbedingt gut. So billigte die Gesellschaftsordnung des frühneuzeitlichen Europas nicht nur Hexenverfolgungen, sondern auch die Ausbeutung von vielen Millionen Bauern durch eine Handvoll Aristokraten.“

Auf den Seiten 258 bis 263 vermittelt Harari seinen Lesern ein völlig verzerrtes Bild des Zweiten Weltkrieges, insbesondere ab 1941. Teilweise könnte man den Eindruck gewinnen, nicht Hitler-Deutschland habe den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, sondern die Sowjetunion und Stalin.

Für Harari existiert keine Klassengesellschaft. Während der Autor mit Linken, Kommunisten und Marxisten, aber vor allem mit Josef Stalin hart ins Gericht geht, fällt seine Kritik an Kapitalismus und Faschismus eher dürftig aus. So wird Hitler immer wieder nur kritisiert, um im nächsten Atemzug über die Sowjetunion und Stalin herzuziehen und Sowjet-Sozialismus und Hitler-Faschismus gleichsetzen zu können. Dem Leser soll weißgemacht werden, dass „links“ und „rechts“ viel gemein hätten und für Gesellschaften gleichermaßen am Ende zu Elend und Untergang führten. Daher sei, so Harari, das beste Gesellschaftsmodell die „Demokratie“, weil die starke „Selbstkorrekturmechanismen“ habe, die immer wieder zum Einsatz kämen, wenn es in der Gesellschaft zu Fehlentwicklungen komme. Laut Harari sei „Demokratie“ nicht gleichbedeutend mit der Herrschaft der Mehrheit. „Demokratie bedeutet Freiheit und Gleichheit für alle.“

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Hochhäuser in Duschanbe (Foto: Orhan Akman)

Welche Erklärung hat Harari dann dafür, dass die Republik Tadschikistan zwar seit 1991 unabhängig und eine Republik mit einem Zweikammer-Parlament ist, aber seit 1994 denselben Präsidenten hat, Emomali Rahmon? Der selbsternannte „Führer der Nation“ wurde am 11. Oktober 2020 laut offiziellem Ergebnis mit 90,92 Prozent der Stimmen für eine fünfte Amtszeit wiedergewählt.

Überhaupt sieht Harari „Selbstkorrekturmechanismen“ nur in Bezug auf die bürgerliche Demokratie und lehnt andere Gesellschaftsmodelle ab, weil diese undemokratisch seien und zu Machtmissbrauch führten. „In demokratischen Systemen fließt die Information frei durch zahlreiche unabhängige Kanäle, während totalitäre Systeme versuchen, die Information in einer Hand zu konzentrieren.“ Natürlich sind westliche Länder wie die USA, Britannien oder Deutschland für Harari uneingeschränkt Demokratien. Aber was ist mit den Konzentrationsprozessen in den Medien und der zunehmenden Macht einiger weniger digitaler Plattformen in diesen Ländern? Wie viele Personen beziehungsweise Familien bestimmen darüber, was der Großteil der Gesellschaften dieser Länder tagtäglich an filtrierten Informationen erhält? Warum greift dieser „Selbstkorrekturmechanismus“ in den USA nicht, wo Donald Trump im Januar seine zweite Amtszeit angetreten hat? Nicht nur Trump, ein Milliardär, kommt direkt an die „Schaltstellen der bürgerlichen US-Demokratie“, sondern auch Elon Musk. Es geht nicht mehr alleine darum, ob Konzerne und Tech-Giganten ihren Einfluss via Lobbyarbeit auf Regierungen erhöhen und ausbauen – sie übernehmen selber die Staatsmacht. Diese Fragen werden von Harari nicht beleuchtet. Stattdessen behauptet er: „Als Informationstechnologie ist der Selbstkorrekturmechanismus das Gegenteil des heiligen Buches.“

In Bezug auf den Umgang mit Social Media behauptet der Autor: „Da Demokratien die Meinungsfreiheit ernst nehmen, haben sie viel weniger Leichen im Keller, und sie haben ein relativ hohes Maß an Toleranz selbst gegenüber anti-demokratischen Äußerungen entwickelt.“

Ist Harari entgangen, wie staatliche Einrichtungen, Medien und die Polizei in Deutschland seit Monaten pro-palästinensische Aktionen und Demonstrationen kriminalisieren und verbieten? Hat er noch nie von den horrenden Haftstrafen gehört, die die spanischen Justiz für das Verbreiten politischer Witze via Facebook & Co. verhängt?

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Markt in Duschanbe (Foto: Orhan Akman)

Die Rolle der Algorithmen von Facebook und anderen Netzwerken beleuchtet Harari immerhin im Zusammenhang mit dem Massenmord an tausenden Rohingyas, den Angehörigen der muslimischen Minderheit im Westen von Myanmar, in den Jahren 2016/2017. „Manchmal gingen die Algorithmen sogar über bloße Empfehlungen hinaus. Noch im Jahr 2020, als Wirathus Rolle bei der Anstiftung zur ethnischen Säuberung längst weltweit verurteilt worden war, empfahlen die Facebook-Algorithmen nicht nur weiterhin seine Botschaften, sondern spielten seine Videos auch automatisch an. (…) Die Menschen wählten nicht aus, was sie sehen wollten. Die Algorithmen nahmen die Auswahl für sie vor.“ Harari bezeichnet diese „ethnische Säuberung“ als die erste, „die zum Teil auf Entscheidungen nicht-menschlicher Intelligenz zurückzuführen“ sei. Die Tatsache, dass Social Media in den Händen mächtiger privater Konzerne ist und kaum kontrolliert wird, ignoriert er jedoch, denn das würde seinem Loblied auf die bürgerliche Demokratie widersprechen. Harari ignoriert die kapitalistischen Besitzverhältnisse und behauptet, dass sich Computer so weit entwickelt hätten, dass sie nunmehr „vollwertige Mitglieder des Informationsnetzwerkes“ seien. „Die Erfindung von KI ist potenziell bedeutsamer als die Erfindung des Telegrafen, des Buchdrucks oder sogar der Schrift, denn die KI ist die erste Technologie, die in der Lage ist, selbstständig Entscheidungen zu treffen und Ideen zu entwickeln.“ Wer aber füttert die KI mit den Informationen, aus denen diese dann „selbständig“ ihre Schlüsse zieht? Wer wählt aus, welche Informationen für die „Ausbildung“ der KI relevant sind und welche nicht? Wer entscheidet, was der KI als „wahr“ und „unwahr“ angezeigt wird? Der Autor ist sich solcher Fragen durchaus bewusst: „Tech-Giganten wie Facebook, Amazon, Baidu und Alibaba sind nicht einfach nur die gehorsamen Diener der Launen der Kunden und staatlicher Vorschriften. Sie bestimmen diese Launen und Vorschriften zunehmend selbst. Die Tech-Giganten haben einen direkten Draht zu den mächtigsten Regierungen der Welt, und sie investieren enorme Summen in Lobbyarbeit, um Regulierungsmaßnahmen zu verhindern, die ihrem Geschäftsmodell schaden könnten.“

In einer bürgerlichen Demokratie, so Harari, komme dem Staat und Gesetzgeber auch die besondere Rolle zu, den Tech-Giganten, die eine Menge Informationen von Nutzern und Bürgern hamstern und damit riesige Geschäfte machen, Grenzen aufzuzeigen. Dazu müssten Staaten die digitale Infrastruktur im weitesten Sinne als Kernaufgabe staatlichen Handelns im Sinne der Bürger betrachten und entsprechend handeln. Er skizziert einen möglichen Ansatz dazu wie folgt: „Wenn die Tech-Giganten ihre treuhändische Pflicht nicht mit ihrem derzeitigem Geschäftsmodell in Einklang bringen können, könnte sie der Gesetzgeber auf ein traditionelles Geschäftsmodell verpflichten, bei dem die Nutzer für die Dienste mit Geld statt mit Information bezahlen müssen. Die Bürger könnten allerdings einige digitale Dienste als so grundlegend ansehen, dass sie für alle kostenlos sein sollten. Auch dafür gibt es ein historisches Vorbild: Die Gesundheitsversorgung und Bildung. Die Bürger könnten es als Aufgabe des Staates betrachten, eine digitale Grundversorgung zu gewährleisten und aus unseren Steuern zu finanzieren, so wie viele Staaten eine kostenlose Grundversorgung im gesundheits- und Bildungswesen anbieten.“

Diese Aussagen kombiniert der Autor mit dem Warnhinweis, dass „Regierungen und Unternehmen (…) Apps und Algorithmen oft als Werkzeuge für die Überwachung von oben nach unten (entwickeln).“ Zugleich schreibt er aber auch: „Algorithmen können genauso leicht zu wirkungsvollen Instrumenten für Transparenz und Rechenschaftspflicht von unten nach oben werden und Bestechung und Steuerhinterziehung aufdecken.“ An anderer Stelle will Harari die zunehmende Macht der Algorithmen mithilfe eines anderen Algorithmus überprüfen.

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Stand für Gewürze im Markt von Duschanbe (Foto: Orhan Akman)

Harari spricht auch die möglichen Veränderungen in der Arbeitswelt an, die durch KI und Algorithmen getrieben werden. Beschäftigung werde in Zukunft unberechenbar sein, aber es nicht an Arbeitsplätzen mangeln. Die eigentliche Herausforderung sei die Umschulung der Beschäftigten und die Anpassung an einen Arbeitsmarkt, der sich ständig verändere. „Jedes alte Ding war einmal neu. Die einzige Konstante der Geschichte ist der Wandel.“

Unter der Rubrik „Datenkolonialismus“ ab Seite 507 stellt Harari dar, wie der heutige Kolonialismus mithelfe von KI und Daten erfolgt. „Im 21. Jahrhundert muss man keine Kanonenboote mehr schicken, um eine Kolonie zu beherrschen. Man muss sich die Daten sichern. Einige wenige Unternehmen oder Staaten, die die Daten dieser Welt horten, könnten den Rest des Globus in Datenkolonien verwandeln.“ Diese möglichen digitalen Imperien würden sich kaum besser verhalten als die Industrieimperien des 19. und 20. Jahrhunderts, die ihre Kolonien ausbeuteten und unterdrückten.

Kurz vor Schluss seines Buches stellt Harari einmal mehr Marxisten in die gleiche Ecke wie Populisten, in dem er ohne Quellangaben behautet: „Sowohl Populisten als auch Marxisten glauben, dass das Denken der Menschen von ihren Privilegien bestimmt wird und das man das Denken nur dann verändern kann, wenn man den Menschen diese Privilegien nimmt – was in der Regel nur gewaltsam geschehen kann.“

Das ist nicht mehr als eine Verballhornung des berühmten Marx-Zitates „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ Im Übrigen „glauben“ Marxisten nicht, sondern verstehen den wissenschaftlichen Sozialismus als Grundstein für eine bessere Gesellschaftsordnung.

„Nexus“ hat mich also nicht dazu gebracht, meine politische Haltung als Marxist und Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus über Bord zu werfen.

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Atemberaubender Ausblick beim Wandern in Tadschikistan (Foto: Orhan Akman)

Während ich in der Morgendämmerung Istanbul anfliege, plane ich für meinen nächsten Besuch in Tadschikistan schon Bergtouren, zum Beispiel auf den Karl-Marx-Gipfel (6.726 Meter), den Engels-Gipfel (6.510 Meter) oder den Majakowski-Gipfel (6.096 Meter). Mein Bekannter, der Unternehmensvertreter, der mir das Buch empfohlen hat, kann mich gerne begleiten.

Yuval Noah Harari
Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz
Penguin Verlag, 656 Seiten, 28 Euro

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