Steht auf wie Löwen nach dem Schlummer

Von Jenny Farrell

Vor 200 Jahren säbelte britische Polizei Arbeiter nieder.

Percy Bysshe Shelley reagierte mit einem der frühesten Werke sozialistischer Literatur – das bei Brecht und anderen nachwirkt

„Das Massaker von Peterloo – oder eine Kostprobe englischer Freiheit!“ Eine zeitgenössische Karikatur zeigt, wie Polizei die Demonstration niederschlägt.

„Das Massaker von Peterloo – oder eine Kostprobe englischer Freiheit!“ Eine zeitgenössische Karikatur zeigt, wie Polizei die Demonstration niederschlägt.

Das erste Opfer war der zweijährige William Fildes. Das Pferd eines Polizisten hatte ihn aus dem Arm seiner Mutter gestoßen. Insgesamt 18 Teilnehmer der Demonstration starben, vierhundert wurden verletzt: Erschossen, niedergeritten, von Polizeisäbeln verwundet. 60 000 arbeitende Frauen und Männer hatten sich in St. Peter‘s Fields bei Manchester versammelt. Sie forderten demokratische Rechte und die Abschaffung der Kornzölle, die das Brot in England teurer machten. Das Massaker vom 16. August 1819 veranlasste den Dichter Percy Bysshe Shelley zu seiner berühmten Ballade „The Mask of Anarchy“ – eines der frühesten Werke sozialistischer Literatur, das unter anderem von Bertolt Brecht wieder aufgegriffen werden sollte.

In England hatte die Bourgeoisie bereits im 17. Jahrhundert die Macht erobert. Wie die französische Bourgeoisie in den 30 Jahren zuvor in der großen Revolution die Macht erobert hatte, musste den englischen Bürgern Angst machen: Aus ihrer Sicht richtete sich der Terror der Jakobiner und des französischen Volkes gegen die herrschende Klasse – das französische Beispiel konnte in England nur dazu beitragen, die wachsende Arbeiterklasse zu radikalisieren.

Bis zu Napoleons endgültiger Niederlage 1815 war Großbritannien in einen verlängerten Kriegszustand verwickelt. Das erste Ergebnis des Friedens war eine schwere politische und wirtschaftliche Krise. Die Unruhen und Proteste der Arbeitenden politisieren sich, die Regierung erlässt 1817 die „Knebelgesetze“, um radikale Agitation zu unterdrücken. 1815 verlor Napoleon die Schlacht von Waterloo – das Polizeimassaker von 1819 hieß bald das „Massaker von Peterloo“.

Ye are many, they are few

Der revolutionäre romantische Dichter Percy Bysshe Shelley war im Jahr zuvor aus politischen Gründen nach Italien emigriert. Als er drei Wochen danach von dem Massaker erfuhr, schrieb er innerhalb weniger Tage die 91 Strophen von „The Mask of Anarchy“ – eines der größten politischen Protestgedichte in englischer Sprache.

„The Mask of Anarchy“ lässt die wichtigsten Spieler der Regierung in einem grauenhaften Zug aufmarschieren: Den Mord (Außenminister Castlereagh), Betrug (Justizminister Eldon), Heuchelei (Innenminister Sidmouth) und andere Verheerer (Bischöfe, Anwälte, Parlamentarier und Spione).

(II)  Ich traf den MORD

unterwegs –

Er ging maskiert wie

Castlereagh –

Sehr glatt sah er aus, aber finster;

Sieben Bluthunde folgten ihm.

(III)  Alle waren fett; und sie

mussten

In großartiger Verfassung sein

Denn jedem von ihnen warf er

Ein, zwei Menschenherzen

zum Kauen vor

Die er aus seinem weiten Mantel zog.

(IV)  Als nächster kam der BETRUG.

Er trug

The Lord Eldon ein Gewand

mit Hermelin;

Seine dicken Tränen, denn er

weinte gut

Verwandelten sich beim Fallen in

Mühlsteine.

(V)  Und den kleinen Kindern, die

Um seine Füße spielten

Und jede Träne für einen

Edelstein hielten

Schlugen sie die Schädel ein.

(VI)  Angetan mit der Bibel wie mit Licht

Und mit den Schatten in der Nacht

Wie Sidmouth, ritt als nächste

Auf einem Krokodil die

HEUCHELEI vorbei.

(VII)  Und noch viel mehr

VERHEERUNGEN traten auf

In diesem entsetzlichen Maskenzug

Alle verkleidet bis zu den Augen

Als Bischöfe, Anwälte,

Peers und Spitzel.

(VII)  Zuletzt kam die ANARCHIE: sie ritt

Auf einem weißen Pferd,

mit Blut bespritzt;

Sie war blass bis zu den Lippen

Wie der Tod in der Apokalypse.

(IX)  Und sie trug eine königliche Krone

Und umklammerte ein

glänzend Zepter;

Auf ihrer Stirn aber sah ich ein Zeichen –

ICH BIN GOTT UND KÖNIG

UND GESETZ.

Das Gedicht beschreibt nun die Anarchie als den wahren Herrscher Englands. Auf seinem Amoklauf stößt er auf die Hoffnung, die mehr der Verzweiflung gleicht und deren Zeit abläuft. Die Hoffnung legt sich vor die Pferdehufe, in einem Akt passiven Widerstands. Es entsteht ein Nebel, der die Menge mit Hoffnung – und Ideen – inspiriert. Die Wirkung dessen, der Tod der Anarchie, wird in der nächsten Strophe (24) dargelegt: „Und ANARCHIE, dies Stirb statt Werde,/legte Erde nun zu Erde;/TODES Pferd, das Ungetüm,/ging durch, die Mörder hinter ihm/zu Staub getreten ungestüm“. Es folgen zwei Strophen, die unauslöschlich in das englische sozialistische Bewusstsein geschrieben sind (und deshalb auch im Original wiedergegeben werden):

(37)  Männer Englands, euer Ruhm,

mehr noch: euer Heldentum:

aufgeschrieben ist‘s noch nicht –

ihr seid Englands Zuversicht.

(XXXVII)  Men of England, heirs of Glory,

Heroes of unwritten story,

Nurslings of one mighty Mother,

Hopes of her, and one another;

(XXXVIII)  Steht auf wie Löwen nach

dem Schlummer

In unbesiegbarer Anzahl!

Schüttelt eure Ketten ab wie Tau

Der im Schlaf auf euch gefallen war

Ihr seid viele – sie sind wenige.

(XXXVIII)  Rise like Lions after slumber

In unvanquishable number,

Shake your chains to earth like dew

Which in sleep had fallen on you –

Ye are many – they are few.

Als nächstes fragt Shelley in Strophe XXXIX: „Was ist Freiheit?- Ihr könnt sagen/Was Sklaverei ist – nur zu gut“. Daraufhin skizziert er schonungslos und einfühlsam die Lage der Arbeiterklasse, wie ihre Proteste unterdrückt werden – um schließlich zu beschreiben, worin Freiheit bestehen würde.

Die Attribute der Freiheit nach Shelley sind: Nahrung, Kleidung, Heizung, wahre Gerechtigkeit für alle (nie für Gold), Weisheit, Frieden und Liebe. Die Freiheit wird von Wissenschaft, Poesie und Denken, Geist, Geduld und Sanftmut geleitet. Shelley fährt fort, dass das arbeitende Volk, die Unterdrückten, den Tyrannen gelassen begegnen und sie beschämen sollen. Das Gedicht endet jedoch nicht in Passivität, sondern im Aufruf zur Tat, die zur Strophe in der Mitte zurückkehrt:

(91)  Löwen! Schlummert immer noch?

Unbesiegbar seid ihr doch.

Brecht ihr eure Ketten nicht,

dann verfällt die Chance schlicht –

Ihr – ihr zählt – sie zählen nicht.

Marx‘ Tochter Eleanor schrieb über Shelley und seine Ballade, dass „mehr als alles andere, was uns dazu bringt, Shelley als Sozialisten zu bezeichnen,sein einzigartiges Verständnis der Tatsache ist, dass sich die heutige Tyrannei in die Tyrannei der besitzenden Klasse über die Produzierenden auflöst und dass dieser Tyrannei letztendlich fast alles Böse und Elend anzulasten ist“. „The Mask of Anarchy“ ist damit nicht nur eine früher Teil des Kanons der sozialistischen englischen Arbeiterliteratur – es ist ein Bestandteil des internationalen sozialistischen Literaturerbes. In seinem Aufstatz „Weite und Vielfalt der sozialistischen Schreibweise“ fragt Bertolt Brecht, was realistische Literatur ausmacht. Über Shelley schreibt er: „Sollte seine große Ballade ‚Der Maskenzug der Anarchie‘, geschrieben unmittelbar nach den von der Bourgeoisie blutig unterdrückten Unruhen in Manchester (1819), nicht den gewöhnlichen Beschreibungen einer realistischen Schreibweise entsprechen, so hätten wir dafür zu sorgen, dass die Beschreibung realistischer Schreibweise eben geändert, erweitert, vervollständigt wird.“

Alle die entnazten Nazi

Brecht selbst lässt Shelleys Tradition in seinem eigenen Gedicht von 1947 fortlegen, „Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“. Brecht, der Shelleys Balladenform mit vier Hebungen folgt, beschreibt in seinem Gedicht eine Prozession durch die Ruinen Westdeutschlands nach dem Krieg. Der zerlumpte Zug trägt zwei alte Tafeln, eine mit der verblassten Inschrift „Freiheit“, auf der anderen steht „Democracy“. Vorne zwei Priester – „wurd die Kutte hochgerafft/schaut heraus ein Stiefelschaft“. Dort ein Laken mit überklebtem Hakenkreuz. Es folgen Lehrer, Ärzte, Akademiker, entnazifizierte Nazis in hohen Ämtern, Stürmerredakteure, ein Richter, der alle „der Hitlerei“ freispricht, und viele mehr:

Gleichen Tritts marschiern die Lehrer

Machtverehrer, Hirnverheerer

Für das Recht, die deutsche

Jugend

Zu erziehn zur Schlächtertugend. (…)

Folgend, denn es braucht

der Staat sie

Alle die entnazten Nazi

Die als Filzlaus in den Ritzen

Aller hohen Ämtern sitzen.

Brechts lapidarer und scheinbar distanzierter Ton ähnelt dem Shelleys. Wie bei Shelley führt dies zu bösartiger Satire. Er übernimmt von Shelley die Form und die Idee einer Prozession unmenschlicher Täter. In Shelleys Gedicht repräsentieren diese Täter Regierung und Macht. Brecht zeigt, wie sowohl die gewöhnlichen als auch die mächtigen Nazis von vor wenigen Jahren nicht nur sich selbst weißwaschen, sondern auch ihren gesellschaftlichen Einfluss behalten haben. Ihr Geschrei hat sich in den hohlen Ruf nach „Freiheit und Democracy“ im US-Stil verwandelt.

Als der Zug München, die „Hauptstadt der Bewegung“, erreicht, treten sechs Gestalten aus dem „Braunen Haus“ heraus:

Knochenhand am Peitschenknauf

Fährt die Unterdrückung auf.

In ’nem Panzerkarr’n fährt sie

Dem Geschenk der Industrie.

Dahinter fährt der Aussatz im rostigen Tank, der Betrug folgt, einen Krug Freibier schwenkend – „müsst nur, draus zu saufen / Eure Kinder ihm verkaufen.“ Die Dummheit, alt wie das Gebirge, fährt mit, der Mord singt „Sweet Dream of Liberty“. Der Raub zittert noch vom „gestrigen Schock“.

Aber alle die sechs Großen

Eingesessnen, Gnadelosen

Alle nun verlangen sie

Freiheit und Democracy.

Hier folgt und variiert Brecht Shelley. Während es bei Shelley Mord, Betrug, Scheinheiligkeit, Verheerung und Anarchie sind, erscheinen nun Unterdrückung, Aussatz, Betrug, Dummheit, Mord, Raub. Mord, Betrug und Anarchie also bei beiden. Die Verheerung war bei Brecht bereits variiert bei den hirnverheerenden Lehrern zum Vorschein gekommen. Die Scheinheiligkeit ist im Ruf dieser Todsünden des Kapitals „Freiheit und Democracy“ gnadenlos gegeißelt. Brecht setzt weitere Akzente, die nach der Katastrophe des Faschismus fortleben: Dummheit und der metaphorische Aussatz.

Mit Rage an den Fersen

„The Mask of Anarchy“ wurde erst 1832 veröffentlicht. Shelley war bereits 1822 mit 29 Jahren ertrunken, als sein Segelboot von einem Sturm überrascht wurde. Leigh Hunt, Herausgeber der radikalen Zeitung „The Examiner“, dem Shelley das Manuskript im September 1819 zur Veröffentlichung zugeschickt hatte, befürchtete zu Recht Verfolgung durch den Staat. Er erkannte den aufrührerischen Gestus des Gedichts, den es bis heute bewahrt hat. Seit seiner Veröffentlichung und bis zum heutigen Tag begleiten und inspirieren die Verse von The Mask of Anarchy Menschen auf ihrem Weg zur Freiheit.

Im Jahre 1968, anlässlich der 150. Wiederkehr des Gedenktages an das Massaker von Peterloo, komponierte Malcolm Arnold im Auftrag des britischen Gewerkschaftsbundes TUC die „Peterloo Overture“. 1972 veranlasste der „Blutsonntag“ im nordirischen Derry den Dichter Thomas Kinsella zu einem weiteren Echo Shelleys: In „A Butcher‘s Dozen“ lässt er, wie Shelley, ein Ich an den Tatort zurückkehren:

Ich lief mit Rage an den Fersen

durch Derrys Bogside bittern Eifer

Großer Gott – es war der Tag

Kalt und nieslig und verwest

Ein Monat her. Doch blieb ein Mief

Nach Mord, der stach und faulig stank.

Doch anstatt den Tätern zu begegnen, stößt das lyrische Ich auf die Opfer, die sprechen. Diese Opfer entlarven ihre Angreifer, die wie in Shelleys Gedicht den repressiven britischen Staat repräsentieren.

Kinsella schließt mit der Hoffnung auf den britischen Abzug aus Nordirland: „Wenn England nur verschwinden könnt/Zu Haus der Schande eingedenk“ – er hofft auf eine Art Versöhnung zwischen denjenigen, die nach dem britischen Rückzug in Irland leben.

Franz-Josef Degenhardt schließlich lässt seinen Anachronistischen Zug (auf dem Album „Kommt an den Tisch unter Plaumenbäumen“, 1973) an der Tribüne vorbeiziehen, von der aus die zuschauen, in deren Tyrannei sich – nach Eleanor Marx – die heutige Tyrannei auflöst:

Und da saßen ein paar Herrn

Leiter von ein paar Konzern.

Und das waren kluge Kenner,

klardenkende, ernste Männer,

die Millionen dirigierten,

und die auch mit Weitsicht führten.

Machten keine Sprüche mit.

Freiheit hieß für die Profit.

Freiheit.


Der Text von Shelleys „The Mask of Anarchy“ wird aus zwei verschiedenen Übersetzungen zitiert: Die Fassung mit römischen Nummern stammt von Bertolt Brecht. Brecht fertigte für seine Zwecke in seinen Überlegungen zu „Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“ eine Interlinearübersetzung, die wichtige Hinweise für seine eigne Ballade „Der Anachronistische Zug“ liefert. Die Strophen, für die keine Übersetzung Brechts vorliegt, werden mit arabischen Nummern in der Nachdichtung von Günter Plessow zitiert. Die Verse von Thomas Kinsella wurden von der Autorin ins Deutsche übertragen.

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"Steht auf wie Löwen nach dem Schlummer", UZ vom 16. August 2019



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