Statt Freibrief ein Leben

Markus Bernhardt im Gespräch mit Andrea Stein

Politiker und rechte Hetzer beschuldigen traumatisierte Flüchtlinge, sie bekämen von der Gesellschaft eine Art „Freibrief“ ausgestellt, den sie zu Straftaten in Deutschland missbrauchen. UZ sprach mit Andrea Stein aus München. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet seit 2005 unter anderem mit geflüchteten Jugendlichen mit Traumafolgestörungen in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit.

UZ: Was genau versteht man unter einem Trauma?

Andrea Stein: Traumatisierung lässt sich als eine „seelische Verletzung“ verstehen, welche infolge einer Überforderung der Psyche in einer Situation das Erlebte zu einem traumatisierenden Erlebnis werden lässt. Die ersten Fälle, die dokumentiert wurden, waren im 1. Weltkrieg. Betroffen waren Soldaten, die aufgrund der entmenschlichten Situation im Schützengraben, bei den Stellungskriegen, nicht mehr mit dem Zittern aufhören konnten. Sie wurden dann häufig als Kriegsdienstverweigerer und Simulanten deklariert und hingerichtet.

UZ: Welche Erfahrungen oder Lebenssituationen können heutzutage zu einem Trauma führen?

Andrea Stein: Als traumatisierend werden lebensbedrohliche Ereignisse, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt bezeichnet. Es kann also eine Situation der Gewalt sein, zum Beispiel Krieg. Es kann aber auch Gewalt sein, die man selber erlebt. Bis hin zu Gewalt, die sich gegen andere Menschen richtet und die man gesehen oder gehört hat – wenn beispielsweise jemand anderer erschossen oder vergewaltigt wird. Es kann aber auch schon die Androhung von Gewalt ausreichen, um traumatisierend zu wirken. Wir haben es mit überfordernden Lebensereignissen zu tun, die dazu führen, dass die Psyche Wege sucht, derlei zu verarbeiten. Traumatisierende Situationen beziehungsweise Lebensereignisse stellen das Selbst- und Weltbild fundamental in Frage. Darauf reagiert die Psyche mit einem „Alarm-Modus“, um sich zu schützen. Dieser wird unbewusst in solchen Situationen ausgelöst.

Nicht jeder Mensch, der etwas Schlimmes erlebt hat, ist aber auch traumatisiert. Das hat nichts mit Stärke oder Schwäche zu tun, vielmehr muss eine Vielzahl an Faktoren zusammenkommen, die dazu führen, dass eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung entsteht.

UZ: Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Arbeit mit Flüchtlingen, die traumatisiert sind?

Andrea Stein: Menschen, die auf der Flucht waren, haben einen unwahrscheinlichen Überlebenswillen. Studien sagen aus, dass circa ein Drittel der Geflüchteten unter klinisch relevanten Folgen einer Traumatisierung leiden. Eine Traumatisierung ist, wie bereits erwähnt, der Versuch, etwas zu verarbeiten. Diese Menschen stehen unter ständiger Anspannung. Das heißt, wenn sie zur Ruhe kommen, dann kann es sein, dass es zu Folgeerscheinungen kommt, die diese Traumatisierung deutlich machen. Wenn jemand auf der Flucht war und es immer darum ging zu überleben, dann wird er in dieser Zeit nicht ausfallen. Erst wenn er dann zur Ruhe kommt, können Schlafstörungen, das „Auseinanderfallen“ von psychischen Funktionen, sogenannte Dissoziationen, durch einen Schlüsselreiz ausgelöste Flashbacks und andere Ausfälle von gewissen Bereichen im menschlichen Geist passieren. Derlei beobachtet man nicht nur bei Geflüchteten, sondern auch bei Opfern häuslicher Gewalt oder anderer Gewalttaten.

UZ: Was bedeutet das konkret?

Andrea Stein: Beispielhaft nenne ich hier einen Flashback. Dieser wird unter anderem durch Geräusche, Bilder und Gerüche ausgelöst. Wenn zum Beispiel jemand neben einem in der U-Bahn steht und das Gegenüber riecht wie eine  Person, die einen vergewaltigt hat, dann kann es sein, dass der betroffene Mensch gedanklich nicht mehr in der U-Bahn steht, sondern sich in der Vergewaltigungssituation wiederfindet. Die Realität und die Gedanken können dann in dieser Situation nicht mehr auseinandergehalten werden.

UZ: Nicht selten wird in der etablierten Politik, Medien und Teilen der Bevölkerung der Vorwurf erhoben, dass nahezu jeder Flüchtling als traumatisiert dargestellt werde und damit dann jede Straftat, sei sie auch noch so schwerwiegend, entschuldigt werden könne – also vermeintlich Betroffene über eine Art Freibrief verfügten. Was würden Sie dem entgegensetzen?

Andrea Stein: Alleine mit dem Begriff „Freibrief“ wird bereits unterstellt, dass man es sich aussuchen könnte, ob man unter einer Traumatisierung oder posttraumatischen Belastungsstörung leidet oder eben nicht. Und dass man es sich aussuchen könnte, wann ein Flashback oder eine Dissoziation kommt. Alle Menschen mit einer Traumatisierung wären froh, wenn sie diese nicht erleben müssten, wenn es die Traumatisierung nicht gäbe. Für die Betroffenen ist es real, was in den Flashbacks oder Dissoziationen passiert beziehungsweise was sie in dieser Zeit machen,.

Der Vorwurf eines vermeintlich vorhandenen Freibriefs für traumatisierte Menschen stigmatisiert diese pauschal als potentielle Gewaltverbrecher. Das ist nicht hinnehmbar. Wir haben in diesem Land – und vor allem im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen – eine Vergangenheit, die derlei noch einmal besonders verbietet. Kein Mensch mit einer Traumatisierung will einen „Freibrief“ für mögliche Straftaten, sie wollen ein Leben ohne Traumafolgen haben.

UZ: Gibt es derzeit eine adäquate Versorgung, beispielsweise in den sogenannten Ankerzentren?

Andrea Stein: Nein, die gibt es nicht! Zum Ankerzentrum ist zu sagen, dass es – ironisch gesagt – der perfekte Ort ist, retraumatisiert zu werden. In den Ankerzentren wird nicht auf Traumatisierungen geachtet. Das zeigt sich etwa darin, dass in den Unterkünften allein reisende Frauen ohne abschließbaren Wohnraum auf den gleichen Fluren untergebracht werden wie Männer. Auch allein reisende junge Männer, die selbst auf den Fluchtrouten Opfer von massiver psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt geworden sind, werden in großen Räumlichkeiten untergebracht. Es gibt keinen Rückzugsraum, keine eigene Essensversorgung. Es sind viele Menschen auf engem Raum, die keine Möglichkeit haben, spontan zum Arzt zu gehen und so weiter. Der Ablauf des Asylverfahrens tut sein Übriges, die Menschen in den Ankerzentren zu verunsichern. Die Liste ließe sich noch länger fortsetzten.

Eine flächendeckende Versorgung mit Ärzten und Dolmetschern, die sich mit dem Thema Trauma auskennen, gibt es außerhalb der Ballungszentren fast nicht.

UZ: Was müsste sich ändern?

Andrea Stein: Um die wichtigsten Punkte zu nennen: Wir brauchen eine flächendeckende – und nicht nur in den Metropolen vorhandene – Versorgung für Menschen mit Folgestörungen aufgrund eines Traumas sowie eine fachgerechte Ausbildung für Dolmetscher im medizinischen Bereich. Die gesellschaftliche Akzeptanz, dass es Traumafolgen gibt, nicht nur bei Flüchtlingen, sondern bei allen, muss vermittelt werden.

Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass auch die Unterkunft, die Arbeitsverbote, das Asylverfahren, das „Entmündigen“ von Flüchtlingen retraumatisierend wirken kann. Es braucht das Bewusstsein, dass Menschen mit Traumafolgen selbst keinen Freibrief haben wollen, sondern Unterstützung auf ihrem Weg, das Trauma zu verarbeiten.

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"Statt Freibrief ein Leben", UZ vom 9. August 2019



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