Landtag NRW beschließt Pflegekammer-Gesetz – ver.di protestiert

Standesdenken oder Solidarität?

Die Pflegekräfte in Nordrhein-Westfalen sollen nach einem neuen Gesetz in einer Pflegekammer zusammengefasst werden. Die Landesregierung behauptet, damit werde die Pflege aufgewertet. ver.di geht davon aus, dass eine Kammer die Probleme der Pflege nicht entschärfen wird und verweist auf die Erfahrungen in anderen Bundesländern.

Am 24. Juni hat der Landtag mit den Stimmen der schwarz-gelben Regierungsparteien und der Grünen das Gesetz zur Errichtung der Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen beschlossen. Nun wird das Landesgesundheitsministerium die Mitglieder für einen Errichtungsausschuss aus den Vorschlägen von Fachverbänden und Gewerkschaften auswählen. Bis 2022 soll dieser Ausschuss die Kammer aufbauen.

Die Befürworter von Pflegekammern argumentieren, auf diese Weise könne eine stärkere Interessenvertretung für Pflegekräfte geschaffen und die Pflege aufgewertet werden, Patienten könnten durch die Stärkung professioneller Standards vor unsachgemäßer Pflege geschützt werden. ver.di betont dagegen, dass die Pflege auch von den Bedingungen abhängig ist, die die Träger von Kliniken und Einrichtungen ermöglichen – eine Organisation der Pflegekräfte könne nichts am Personalmangel ändern. Außerdem verstärke eine Kammer die Spaltung zwischen verschiedenen Berufsgruppen in Gesundheitseinrichtungen.

Die Landesregierung hatte zuvor eine Umfrage unter 1.500 Pflegekräften durchgeführt, die sich mehrheitlich für eine Pflegekammer aussprachen. Aus Sicht von ver.di sagt dieses Ergebnis wenig aus: Die Pflegekräfte seien nicht hinreichend über eine Pflegekammer informiert. Eine Kammer bedeutet nicht nur eine verpflichtende Mitgliedschaft, sondern auch verpflichtende Beiträge, um die Kammer zu finanzieren. Das Gesetz sieht zwar vor, dass die Landesregierung 5 Millionen Euro als Anschubfinanzierung zur Verfügung stellt, die weitere Finanzierung der Kammer aber von den Mitgliedern selbst getragen werden soll. Die Kammer soll auch Aufgaben übernehmen, für die bisher staatliche Stellen zuständig sind – zum Beispiel bei der Weiterbildung von Pflegekräften oder bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen. Sie würde den Staat also entlasten, die Kosten dafür sollen die Pflegekräfte mit ihren Beiträgen tragen. Die Befürworter der Pflegekammer argumentieren, dass nur so gesichert sei, dass die Kammer unabhängig sei. In einer Stellungnahme für den Landtag kritisiert ver.di: „Das Unabhängigkeitsargument wird so zur Kostenersparnis.“

In Niedersachsen hatte die neu eingeführte Pflegekammer Ende 2018 erstmals Beitragsbescheide verschickt, viele davon zu hoch. Daraufhin hatten Pflegekräfte protestiert, über 50.000 hatten eine Petition gegen die neue Kammer unterschrieben. Ende 2019 sah sich die regierende Koalition gezwungen, die Beitragspflicht für die Kammer auszusetzen und gezahlte Beiträge zurückzuerstatten.

Wie das Standesdenken, das hinter einer Kammer steht, an den wirklichen Problemen im Gesundheitswesen vorbei geht, zeigt das Beispiel der Berufsordnung in Rheinland-Pfalz, die Anfang des Jahres in Kraft getreten ist. Nach dieser rechtlich bindenden Ordnung legen die Pflegekräfte des Bundeslandes ein „feierliches Versprechen“ ab, in dem es heißt: „In allen Situationen werde ich die Ehre und das Ansehen des Berufsstandes wahren.“ Die Personalrätin Silke Präfke, die für ver.di in der Vertreterversammlung der Landespflegekammer sitzt, kommentiert dieses Versprechen in einem Interview: „Was soll das heißen? Wenn ich öffentlich auf die schlechten Bedingungen in der Pflege hinweise, schade ich dann der Ehre und dem Ansehen des Berufes? Theoretisch könnte die Pflegekammer Whistleblowing bestrafen.“

Auch in anderer Hinsicht könnte eine ständische Organisation mehr schaden als nützen: Die Berufsordnung in Rheinland-Pfalz legt weitgehende Pflichten der Pflegekräfte fest – zum Beispiel eine vollständige und fälschungssichere Dokumentation ihrer Arbeit. Ob aber die Pflegekräfte in ihrer Einrichtung die Bedingungen und die Zeit dafür haben, diese Pflichten zu erfüllen, liegt nicht allein in ihrer Hand: Der Personalmangel, den Träger und Regierende geschaffen haben, kann von der Pflegekammer nicht beseitigt werden. Die Berufsordnung legt fest, dass Pflegekräfte sich kontinuierlich fortbilden sollen, aber sie kann die Arbeitgeber nicht verpflichten, die Beschäftigten dafür freizustellen und die Fortbildung zu bezahlen. Pflegekräfte arbeiten überwiegend als Angestellte – aus Sicht der Gewerkschaft liegt hier ein zentraler Unterschied zu anderen Berufsgruppen, die in Kammern organisiert sind. Präfke schätzt ein: Die Vorgaben der Berufsordnung üben „lediglich zusätzlichen Druck auf die beruflich Pflegenden aus, ohne deren Situation zu verbessern“.

Das Gesetz über die Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen sieht vor, dass die Kammer auch Pflegehilfskräfte als freiwillige Mitglieder ohne Stimmrecht zulassen kann. Pflichtmitglieder können nur ausgebildete Pflegekräfte sein. In ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf hatten ver.di und DGB festgestellt, dass zeitgemäße Pflege auf der Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen in Kliniken und Einrichtungen beruhe. In den Kämpfen für Entlastung in den Krankenhäusern hatten die Beschäftigten nicht mehr Pflegekräfte, sondern mehr Personal im Krankenhaus gefordert – weil alle Beschäftigten für den Betrieb der Einrichtungen nötig sind, können Verbesserungen nur durch Solidarität über Berufsgruppen hinaus erreicht werden. Ständische Organisationen sind dabei hinderlich. ver.di und DGB schätzen ein: „Stattdessen brauchen wir Entwicklungen, die das Zusammenspiel der einzelnen Berufsgruppen befördern und keine, die weitere Spaltungen in die Zusammenarbeit tragen.“

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"Standesdenken oder Solidarität?", UZ vom 10. Juli 2020



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