Stadtumbau in Marxloh

Das Gespräch führte Markus Bernhardt

UZ: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in der vergangenen Woche den Duisburger Stadtteil Marxloh besucht. Mit welchem Ziel?

Sylvia Brennemann ist Sprecherin des Duisburger Netzwerk gegen Rechts, Kinderkrankenschwester und wohnhaft in Duisburg-Marxloh. Seit Jahren nimmt sie dort teil an sozialen und politischen Initiativen.

Sylvia Brennemann ist Sprecherin des Duisburger Netzwerk gegen Rechts, Kinderkrankenschwester und wohnhaft in Duisburg-Marxloh. Seit Jahren nimmt sie dort teil an sozialen und politischen Initiativen.

( Bernhardt)

Sylvia Brennemann: Offiziell hieß es, die Kanzlerin wolle über einen Dialog mit der Bevölkerung in Kontakt kommen, um mehr über die Belange und Bedürfnisse der Menschen erfahren. Dazu bereist die Kanzlerin mehrere Städte u. a. war sie eben auch Marxloh. Frau Merkel hat sich dann in Marxloh tatsächlich sehr freundlich, offen und zugewandt den Bewohnerinnen und Bewohnern gegenüber gezeigt, sie wolle die beschriebenen Probleme mit nach Berlin nehmen, um dann möglicherweise Lösungen auf den Weg zu bringen. Das souveräne Auftreten darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass letztlich ein erheblicher Teil der Marxloher Probleme das Ergebnis ihrer Politik ist. Ihre Freundlichkeit ist keinesfalls mit Solidarität zu verwechseln.

UZ: Vor dem Merkel-Besuch hatte das Gros der etablierten Journaille kontinuierlich berichtet, dass Marxloh eine „No-Go-Area“ für Polizeibeamte wäre und Kriminalität und Migrantengangs den Alltag prägten. Sie leben nunmehr seit 45 Jahren in Marxloh. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Sylvia Brennemann: Zunächst muss man mal mit der Legende der „No-Go-Area“ aufräumen. Die aktuelle Kriminalitätsstatistik für Marxloh gibt eine solche Bezeichnung nicht her. Es gab in Marxloh durchaus schon ähnliche Kampagnen durch die Polizeigewerkschaften und die Presse, die letzlich eine Personalstreichung bei der Polizei verhindern sollte bzw. für mehr Stellen die Rechtfertigung bringen sollte.

Mein ganzes Leben hindurch wurde jugendlichen Migranten immer wieder Clanbildung und Kriminalität angedichtet. Von jeher ist von Angsträumen und rechtsfreien Territorien die Rede. Wenn man durch den Stadtteil läuft, tags oder nachts, stellt man dies in keinster Weise fest. Damals wie heute jedoch stellt man unweigerlich fest, dass seit jeher Jugendliche mit Migrationshintergrund in Fragen der Bildung deutlich benachteiligt werden, entsprechend schwierig wird die Jobsuche; inzwischen liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 Prozent. Dass die Jugendlichen darüber wenig erfreut sind, ist vorstellbar. Dafür, dass sie jetzt auch noch als Sündenböcke herhalten müssen, empfinde ich ihr Verhalten als ausgesprochen friedlich.

UZ: Und trotzdem ist ja zutreffend, dass rund 16 Prozent der Marxloherinnen und Marxloher aller Altersgruppen erwerbslos sind und fast siebzig Prozent einen Migrationshintergrund haben.

Sylvia Brennemann: Wenn man sich allein die prekären Lebensverhältnisse der etwa 2 000 Zuwanderer aus Süd-Ost Europa ansieht, die versuchen sich in Marxloh einen neuen Lebensmittelpunkt aufzubauen und bislang auf jegliche staatliche existentielle Leistung verzichten müssen, birgt das allein schon jede Menge Sprengkraft. Die nicht enden wollende mediale Hetze gegen die Betroffenen polarisiert inzwischen den Stadtteil, anstatt ihn in den sozialen Fragen zu verbinden. Ein großer Anteil der Marxloher Bevölkerung ist seit jeher von sozialer und politischer Ausgrenzung betroffen und wähnt jetzt den Sündenbock in den Neuzuwanderern und ist wenig in der Lage, das Problem in der gängigen von sozialen Kürzungen, Vertreibung und Verdrängung geprägten Politik zu erkennen. Ein Potential, das letztlich schon allein durch die mediale Hetze gegen den Stadtteil verloren geht, um an den bestehenden Verhältnissen etwas zu verändern und entsprechende Forderungen in den Fokus zu stellen.

UZ: Was wären Ihre Lösungsvorschläge, die Probleme des Stadtteils in den Griff zu bekommen?

Sylvia Brennemann: Eine erste, sehr konkrete und sehr schnell umzusetzende Forderung muss die Aufnahme der Zuwanderer aus Süd-Ost Europa ins Regelleistungssystem sein, was eine gesundheitliche Versorgung und angemessenen Wohnraum impliziert. Dann muss es sehr zeitnah eine Aufnahme der betroffenen Kinder ins Bildungssystem sein. Bislang gibt es immer noch nicht genügend Schulplätze. Ein konkreter Bezug von ALG II wäre auch nur eine kurzfristige Forderung, wobei man nicht verhehlen darf, dass auch davon ein menschenwürdiges Leben kaum möglich ist und die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle Menschen weiter Bestand haben muss. Die Stadt versteckt sich dabei immer wieder hinter den sogenannten klammen Kassen, was aber letztlich zur Farce verkommt, wenn man bedenkt, wieviel Millionen stets über die Hände unseriöser Investoren verloren geht. Damit hat sich Duisburg inzwischen einen bundesweiten Ruf gemacht. Hinzu kommt, dass der Verdrängungsprozess gestoppt werden muss. Es kann nicht sein, dass massenhaft bezahlbarer Wohnraum für die kapitalen Interessen etwaiger Großinvestoren vernichtet wird, wie z. B. in Bruckhausen oder am Zinkhüttenplatz. Bezahlbarer und menschenwürdiger Wohnraum ist vorhanden und muss geschützt werden. Die Stadt verfügt über etwa 12 000 leer stehende Wohnungen und erdreistet sich ernsthaft, Asylsuchende in einem Zeltlager unterbringen zu wollen. Hier ist die Unterstellung naheliegend, dass die Stadt bestimmte Menschengruppen schlichtweg hier nicht haben will und lieber einen Stadtumbau anstrebt, der möglicherweise wohlhabende Familien aus dem nahegelegenen Düsseldorf anlockt.

UZ: Wie bewerten Sie die Amtsführung von SPD-Oberbürgermeister Sören Link? Es scheint ja mittlerweile fast, als sei die Situation unter dem wegen der Loveparade-Katastrophe abgewählten OB Adolf Sauerland (CDU) besser gewesen?

Sylvia Brennemann: Die Politik des abgewählten Oberbürgermeisters hat sich in Nuancen von der Politik des neuen OB zwar unterschieden, in der Qualität und im Ergebnis jedoch sind es die gleichen neoliberalen Grundzüge. In beiden Fällen wird die Politik nicht an den Bedürfnissen der Menschen gestaltet, sondern sie orientiert sich an den kapitalen Interessen einiger Weniger. Inzwischen ist Duisburg in der EU-Krise angekommen und die Auswirkungen dieser Politik sind an den Betroffenen deutlicher messbar und wesentlich härter geworden.

Der viel beschriebene Neuanfang für Duisburg hat nie stattgefunden. Die ohnehin von Armut Betroffenen, wie in Marxloh, werden mithilfe der Medien polarisiert und gegeneinander aufgehetzt. Die reißerische Kampagne über die sogenannten „No-Go-Areas“, die Kriminalisierung der Neuzuwanderer, die u. a. auch für eine massive Vermüllung des Stadtteils verantwortlich gemacht werden, lenken von den eigentlichen Problemen ab und verhindern einen geschlossenen Widerstand gegen Sozialabbau und den neoliberalen Stadttumbau. In Marxloh trägt diese Polarisierung die ersten Früchte und die Stimmung innerhalb des Stadtteils droht in eine ungute Richtung umzuschlagen. Die Stadtspitze befürchtet offenbar Ähnliches und versucht erneut durch das Verteilen großer Fördertöpfe ein wenig Ruhe in den Stadtteil zu bringen. Ob das gelingt, ist zu bezweifeln, die Polarisierung wird dadurch nicht geringer. Theoretisch wäre die Aufgabe einer parlamentarischen oder ausserparlamentarischen Linken natürlich klar und deutlich, wird aber in weiten Teilen nicht wahrgenommen. Die örtliche Linkspartei zumindest ist hier im Stadtteil nahezu gar nicht verortet. Vielmehr überlässt sie den aufkommenden rechtspopulistischen Aktivisten nahezu unkommentiert das Feld.

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"Stadtumbau in Marxloh", UZ vom 4. September 2015



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