Winfried Wolf prognostiziert Scheitern von Stuttgart 21

Stadtkern den Banken

Von Andreas Grimm

Weitere Informationen: kopfbahnhof-21.de, bei-abriss-aufstand.de

Zur Information über die von Architekten, Ingenieuren und Bahnexperten vorgeschlagene und rund 6 Milliarden Euro einsparende Alternative „Umstieg-21“: umstieg-21.de

Winfried Wolf: abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern. PapyRossa Verlag, Köln 2017. Zu beziehen über: neue-impulse-verlag.de

Stuttgart ist Großbaustelle und wird es auf Jahre bleiben. Die Bauarbeiten für „Stuttgart 21“ (S21), also die Verlegung der Bahngleise in den Untergrund, das Verschwinden des Kopfbahnhofes und seines umfassenden Gleisnetzes aus der Innenstadt und die damit verbundene Gewinnung von Flächen zu Spekulationszwecken, werden wohl noch im Alltagsverstand als Sinnbild für Gigantomanie und deutsche Fehlplanungskompetenz stehen, wenn Elbphilharmonie und der Berliner Flughafen längst in Vergessenheit geraten sind.

Winfried Wolf fasst in seinem neuen Buch „abgrundtief + bodenlos“ die ganze Geschichte des Profit-Projekts Stuttgart 21 zusammen. Er beschreibt und dokumentiert die ökonomischen Kräfte, die dieses Milliarden verschlingende Projekt auf den Weg gebracht haben, die „alternative facts“ der verkehrstechnischen Verbesserungen und die wahren Ambitionen dieses Projekts, und schließlich die Geschichte der grandiosen Proteste dagegen. Etliche, auch wenig bekannte Hintergründe werden im Buch beleuchtet, Wolf hat minutiös recherchiert.

Beginnen wir mit der Geschichte: Bereits die Nazis hatten Pläne zur Auflassung des Kopfbahnhofs, die aber mit dem Hinweis „nur für den Dienstgebrauch“ versehen in der Schublade verschwanden. Am 18. April 1994 – sinnigerweise dreieinhalb Monate nach Gründung der Deutschen Bahn AG – wurde das Projekt „Stuttgart 21“ von Bahnchef Heinz Dürr, Ministerpräsident Erwin Teufel, OB Rommel u. a. erstmals vorgestellt.

Der damalige Bahnchef Dürr war, wie auch seine beiden Nachfolger, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube, eine Größe aus dem Daimler-Konzern. Dass S21 zu einer Optimierung des Schienenverkehrs führen soll, widerspricht schon die Tatsache, dass die Privatisierung der Bahn der „Zurückdrängung der Schiene im Interesse der vorherrschenden Autokonzerne und der aufstrebenden Luftfahrtindustrie“ dient, zudem „die Eisenbahnen (…) in allen modernen Industriestaaten die größten Immobilienbesitzer“ sind, wie Wolf richtig schreibt. Der eigentliche Zweck der unterirdischen Schienen ist das Freiwerden bebaubarer Flächen.

Winfried Hermann, seit 2011 Verkehrsminister von Baden-Württemberg, legte dar, dass es bei Projekten wie S21 um Immobiliendeals und Bodenspekulation geht. Und wie es kapitalistischer Natur entspricht, gehen die Profite in private Hände, während das Bauprojekt „mit öffentlichen Geldern beziehungsweise mit Geldern der in Staatsbesitz befindlichen Deutschen Bahn AG finanziert“ wird.

Stuttgart 21 wurde unter einer schwarzen Regierung entwickelt und durch alle nachfolgenden Regierungen in allen möglichen Farbkonstellationen bis hin zu den schließlich zu Befürwortern gewordenen Grünen durchgepeitscht. „Die Baulobby kennt bei Stuttgart 21 keine Parteien, sondern nur noch S21-Befürworter“, so Wolf.

Wolfs legt dar, weshalb Stuttgart 21 nicht realisierbar und – wie im Untertitel seines Buches angemerkt – sein Scheitern absehbar ist. Die Sicherheitslage frappant: Der Brandschutz ist nicht geklärt, die Gleise weisen eine unzulässige Neigung auf, die für Kinderwägen und Rollstuhlfahrer auf dem Bahnsteig zu einem sicheren Risiko werden wird. Auch kann der eine oder andere Zug sich durchaus mal selbstständig machen. Der durchgeführte „Stresstest“ fand unter Laborbedingungen statt. Störungen und ihr möglicher Dominoeffekt wurden z. B. gar nicht erst berücksichtigt. Die Vervierfachung der Kosten (seit den ersten Berechnungen, die sich auf 2,46 Mrd. Euro beliefen) auf mittlerweile 10 Mrd. Euro stehen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur propagierten Leistungsfähigkeit.

Die Halbierung der Anzahl an Schienen von 16 auf acht soll laut Bahn zu höheren Kapazitäten führen, zu fließendem Zugverkehr und mehr Zügen pro Tag. In Wirklichkeit dient die Verkleinerung des Schienennetzes dem Straßenverkehr. Und hier sei noch einmal der Hinweis erlaubt: Die letzten drei Bahnchefs kamen aus der Automobilindustrie.

Winfried Wolf widmet schließlich ein ganzes Kapitel seines Buches den Protesten gegen S21. Sie trugen maßgeblich zur Stimmung bei, die das Forsa-Institut in ihrer Umfrage zu S21 mit einer Ablehnungsquote von 67 Prozent bezifferte (August 2010). Der Volksabstimmung, die der Polizeigewalt im Schlosspark am 30. September 2010 und dem Schlichtungsschauspiel mit Heiner Geißler folgte, ging eine immense Medienpropaganda für das Projekt voraus. Scheinbar voneinander unabhängige Medien, wie die „Stuttgarter Zeitung“ und die „Stuttgarter Nachrichten“, wurden Teil der Pro-S21-Kampagne. Sie gehören zur quasi-monopolistischen „Südwestdeutschen Medien Holding“. Die „Grün“ geführte Landesregierung hatte zudem unterlassen, die Bevölkerung redlich über das Immobiliengeschäft zu informieren, das das Projekt S21 eigentlich ist. Die geleistete Vorarbeit von Medien, Politik und Wirtschaft fällt unter die Kategorie „gelenkte Demokratie“.

In einem weiteren Kapitel bettet Wolf „Stuttgart 21“ in die aktuelle Krise des Kapitalismus ein. In der Zeit der Finanzkrise biete ein solches Großprojekt eine von vielen neuen Geldanlagen: „Die Profitmargen im klassischen produktiven Sektor sind zu gering“, weshalb eine „Privatisierungsoffensive“ und eine „Spekulationsoffensive“ die Ökonomie medizinisch versorgen müssen.

Der Versuch, aus einer weitestgehend unbedeutenden Stadt eine Yuppie-Metropole – mit dem Milaneo und dem Bankenkomplex als Stadtkern – zu machen, signalisiert die neue Sozialstruktur des Habens oder Nichtseins.

Laut S21-Gegnern der Mahnwache gibt es derzeit ein unmerkliches Voranschreiten der Bauarbeiten. Mittlerweile 30 bis 40 Bauplanänderungen pro Bauabschnitt werden von ihnen berichtet. Eine neue S-Bahnhaltestelle mit krummem Bahnsteig soll entstehen, kleine, leichte Bauvorhaben werden aus Scheu vor den großen in Angriff genommen, und von der neuen Bahnhofshalle stehen bislang lediglich zwei Kelchfüße für die Überdachung. Ansonsten beschränkt sich der Bau auf Grabarbeiten für den Tunnelbau.

Doch die Tunnelarbeiten sind mit Risiken für Wohnhäuser verbunden. So sind in Gebäuden am Kriegsberg bereits Risse entstanden und im März 2017 ist – 40 Minuten nach einer unterirdischen Sprengung – in der Kunstakademie auf dem Killesberg eine Decke eingestürzt. Die Verantwortlichen von Bahn und Baufirmen sehen zwischen diesen beiden Vorgängen keinen Zusammenhang und sprechen von Materialermüdung beim Gebäude.

Ein Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S21, Norbert Bongartz, schreibt in einer Pressemitteilung vom 13. August dieses Jahres: „Dass es keinen ‚Plan B‘ gibt für den Fall, dass dabei etwas schiefgeht, zeige die Selbstüberschätzung der DB und, auch hier, das Versagen des aufsichtführenden Eisenbahnbundesamts.“

Diplom-Ingenieur Hans Heydemann wies am 7. August auf der Montags-Demonstration der S21-Gegner auf die mit dem Bau zunehmende Überflutungsgefahr hin. Das Durchschneiden aller Abwassersammler der Innenstadt durch den Bahnhofstrog erhöhe die Überflutungsgefahr im Stuttgarter Kessel immens.

Was die steil ansteigenden Kosten des Projekts anbelangt, so sind diese bis zur Eröffnung des Bahnhofs kalkuliert. Für den anschließenden Rückbau der alten oberirdischen Gleisanlage liegt noch kein Finanzierungsplan vor, d. h. die Schröpfung der Bevölkerung geht auch nach Fertigstellung des Bahnhofs noch weiter.

Ein S21-Gegner fasst zusammen: Es zählen keine Argumente mehr. Das Projekt wird entgegen aller Vernunft und Physik blindwütig weitergebaut und man ist – wie der neue Bahnchef Richard Lutz in Wolfs Buch zitiert wird – „finster entschlossen, dieses Projekt zu Ende zu führen“.

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"Stadtkern den Banken", UZ vom 15. September 2017



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