Der Kampf des „Kollektiven Westens“ gegen die Russische Föderation ist bekanntlich nicht auf das ukrainische Schlachtfeld beschränkt. Ein Gebiet, hinsichtlich dessen der Westen, vor allem das US-Imperium, sich Hoffnungen auf Einflussgewinn macht, ist die Kaukasusregion. Dort gibt es den mit dem Ende der Sowjetunion aufgebrochenen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, den Washington, aber auch Ankara auszuschlachten trachten. Deren Interesse wird befeuert durch Öl und Gas. Aserbaidschan verfügt über gesicherte Ölreserven von rund sieben Milliarden Barrel und Erdgasreserven von mehr als einer Billion Kubikmeter. Das Ölzentrum Baku wird mit der 2006 fertiggestellten Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline mit dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan verbunden. Während das vorwiegend orthodoxe Armenien weiterhin gute Beziehungen zu Russland unterhält, hat das mehrheitlich islamische Aserbaidschan gute Beziehungen zur Türkei entwickelt. Die Türkei hat Aserbaidschan im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt 2020 mit Waffenlieferungen unterstützt.
In der armenischen Führung gibt es einigen Unmut über die ihrer Meinung nach unzureichende militärische Hilfe Russlands im erwähnten Konflikt. Armenien hatte eine bittere Niederlage kassieren müssen. Nach Meinung der Armenier hatte Russland im Januar 2022 in Kasachstan entschlossen eingegriffen, es aber nun im September an Entschlossenheit fehlen lassen. Im Kontext dieses im September erneut aufgeflammten armenisch-aserbaidschanischen Konflikts war die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, nach Eriwan gereist, um – wie üblich – ein wenig Öl ins Feuer zu gießen und die Armenier von den Vorteilen einer „US-Partnerschaft“ zu überzeugen.
Am 23. November hielt die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) ein Treffen in der armenischen Hauptstadt ab. Mitglieder dieses Sicherheitsbündnisses sind die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan. Das Treffen fand in einem öffentlichen und einem eingeschränkten Format mit den Staatschefs der Mitgliedstaaten statt. Wie aus dem oben Skizzierten ersichtlich, war die dortige Lage des russischen Präsidenten nicht gerade einfach. Moskau ist zum einen momentan dabei, die militärisch entscheidende Phase des Ukraine-Konflikts vorzubereiten. Zum anderen haben sich die Beziehungen zu Aserbaidschans Paten in Ankara in den letzten Jahren deutlich verbessert. Dieser nicht zu unterschätzende Erfolg der russischen Diplomatie, der eine gewisser Herauslösung der Türkei aus den NATO-Strukturen und eine Hinwendung des Landes zu den BRICS-Plus-Staaten und den Organisationen der Eurasischen Kooperation bedeutet, ist von strategischer Bedeutung. Er kann von Wladimir Putin schlicht nicht aufs Spiel gesetzt werden. Zum dritten handelte es sich bei der OVKS-Operation in Kasachstan um die Verhinderung eines durch die USA inszenierten Regime-Change-Versuchs. Im Kaukasus dagegen geht es um einen Konflikt zwischen zwei Staaten, an dessen Zustandekommen die armenische Seite nicht ganz unschuldig ist.
Angesichts der skizzierten Problematik blieb Putin im öffentlichen Teil der OVKS-Sitzung in Bezug auf Armenien denn auch ausgesprochen schmallippig. Die Kreml-Astrologen der imperialen Meinungsmaschine hatten genüsslich von einer Zurückweisung oder einer Bloßstellung Putins berichtet, von einem Verfall der OVKS. Moskau präferiert, soviel konnte man Putins Äußerungen entnehmen, eine diplomatische Lösung des Konflikts. Man möchte sich ungern in ein ungewisses militärisches Abenteuer im Kaukasus hineinziehen lassen, auch wenn die politischen Kosten bei einem von Washington intendierten Seitenwechsel der armenischen Führung ausgesprochen hoch wären. Putin hat diese diplomatischen Bemühungen in bilateralen Gesprächen mit den Staatschefs von Armenien und Aserbaidschan fortgesetzt. Er hatte in seiner Rede in der OVKS-Versammlung das Zustandekommen eines armenisch-aserbaidschanisch-russischen Gipfels Ende Oktober in Sotschi positiv hervorgehoben. Diesem Format käme eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Konflikts zu.
Der russische Präsident hatte darüber hinaus „die Probleme Afghanistans“, vor allem die Bedrohungen durch „Terrorismus, Extremismus und Drogenkriminalität“, als „extrem wichtig“ für das OVKS-Bündnis bezeichnet. Man werde Afghanistan außer durch die OVKS auch durch multilaterale Bemühungen im „Moskau-Format“ stabilisieren. Dieses umfasst Russland, China, Pakistan, Iran, Indien und die fünf zentralasiatischen Staaten.
Das schwere Erbe der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft und der Jahrzehnte des kriegerischen US-amerikanischen Unilateralismus ist so schnell nicht abzutragen. Das gilt insbesondere auch für die zentralasiatische Großregion. Auch das hat das OVKS-Treffen deutlich gemacht.