Parlamentarische Demokratie und Klassenherrschaft

Stabil, beweglich und integrierend

Von Ekkehard Lieberam

Man darf die Demokratie in Deutschland als stabil und gesichert betrachten“,[1] schrieb Ferdinand Kirchhoff, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, in der FAZ vom 21. Dezember 2017. Wenn über den Zustand der parlamentarischen Demokratie debattiert wird (über Postdemokratie, Fassadendemokratie, über Defizite, Agonie und Legitimationskrise), so sollte nicht aus dem Augen verloren werden, dass diese Einschätzung durchaus zutreffend ist.

Allerdings sehen Marxisten diese Stabilität nicht nur im äußeren Erscheinungsbild, in stabilen Mehrheiten, die mit der Demokratie zufrieden sind, sondern vor allem in dem historisch gewachsenen subtilen Mechanismus der parlamentarischen Demokratie zur Herrschaftsstabilisierung. Im Ergebnis einer „Transformation der Demokratie“, so Johannes Agnoli im Jahre 1967, kann die „bürgerliche Republik“ die Entwicklung des Klassenkampfes „zum politischen Herrschaftskonflikt“ verhindern. Sie entwickelt sich zu einem Mechanismus, „der antagonistische Konflikte so weit wie möglich politisch ‚irrelevant‘ macht und plurale Interessenkonflikte staatlich kontrolliert und befriedet.“ Sie „transformiert sich zur besten Form, die abhängige Klasse in das kapitalistische System der Produktion und in das bürgerliche System der Herrschaft zu integrieren. Das ‚Volk‘ wird zur bloßen Manövriermasse im Konkurrenzstreit politischer Führungsgruppen degradiert.“[2]

Diese Einschätzung gilt heute noch mehr als vor einem halben Jahrhundert. Wichtige Bestandteile des Mechanismus der transformierten Demokratie sind:

Erstens Wahl-, Parteien- und Regierungssysteme, die verlässlich die Kapitalherrschaft gewährleisten.

Ungeachtet der Vielfalt in den Erscheinungsformen und Strukturen ähneln sich die parlamentarischen Regierungssysteme in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Im Ergebnis eines historischen Lernprozesses hatten diejenigen „demokratischen Institutionen“ Bestand, „die in der Lage schienen, die kapitalistische Ordnung aufrecht zu erhalten“[3]. Als außerordentlich wirksam im ideologischen Klassenkampf erwies es sich, dass mit Hinweis insbesondere auf die Wahlen und daraus hervorgehende repräsentative Vertretungsorgane staatliches Handeln als „Ableitung vom Volk“ glaubhaft legitimiert werden konnte. Nicht der tatsächliche Maßstab für Demokratie (die jeweils gegebene reale individuelle und kollektive Selbstbestimmung der Menschen über ihre Angelegenheiten), sondern das Vorhandensein von „freien Wahlen“ konnte im öffentlichen Bewusstsein zum allgemein anerkannten Maßstab für Demokratie gemacht werden.

Das parlamentarische Regierungssystem erwies sich als tauglich für die Umsetzung der ökonomischen Macht in politische Herrschaft, für eine politische und zivile Gesetzgebung, die „das Wollen der ökonomischen Verhältnisse (proklamieren und protokollieren)“.[4] Das Kapital ergriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der „demokratischen Republik … Besitz“.[5] Die Finanzoligarchie legte „ein dichtes Netz von Abhängigkeitsverhältnissen über ausnahmslos alle ökonomischen und politischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft“.[6] Die sozialdemokratischen Parteiführer entwickelten sich als Minister zu Ärzten am Krankenbett des Kapitalismus. Die parlamentarische Demokratie wurde zur „demokratischen Methode“ zur Installierung einer „Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“.[7]

Dabei ist manches anders geworden als es die Demokratietheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts konzipiert hatten. Nicht das Parlament kontrolliert die Regierung, sondern die Regierungen kontrollieren in enger Kooperation mit der „Wirtschaft“ das Parlament. Das Budgetrecht als „Königsrecht des Parlaments“ ging mehr oder weniger verloren. Neben einer gewissen Teilung der Gewalten gibt es eine Verschränkung der Gewalten, wobei die Exekutive dominiert. Größere Teile der Bevölkerung sind derzeit fasziniert von den Debatten um Jamaika oder Minderheitenregierung, von GroKo oder No-GroKo. Dabei wird zumeist übersehen, dass bei Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen bis auf wenige Korrekturen die alte Politik fortgesetzt wird, die politische Stellschraube nur im Mikrobereich verändert wird. In der Exekutive und nicht im Bundestag „schlägt die Herzkammer des bürgerlichen Politikbetriebes“.[8]

Zweitens ein Integrationssystem, das die parlamentarische Demokratie beweglich hält und vielfältige politische Illusionen bewirkt.

Die parlamentarische Demokratie ist nicht nur formal und sie ist auch nicht nur Fassade. Sie hat einen Inhalt. Im parlamentarischen Regierungssystem stimmen die verschiedenen Kapitalfraktionen ihre Interessen ab (im Parlament, aber noch mehr in der Exekutive). Der Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit (allerdings gegenüber den fünfziger und sechziger Jahren auf einem deutlich niedrigeren Niveau) wird ständig neu austariert, abhängig von der Stärke des Klassenwiderstandes.

Ähnlich wie im Sport haben die Wahlkämpfe der Parteien um den „Wählermarkt“ heute den Charakter von interessanten, quasi sportlichen „Wettrennen“ um Mandate. Koalitionsverhandlungen verbinden sich mit öffentlichen Showveranstaltungen von Talkrunden im Fernsehen und kontroversen Debatten auf Parteitagen. Die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie vermittelt den Bürgerinnen und Bürgern neben dem Eindruck der Lebendigkeit auch das Gefühl, politische Entscheidungen beeinflussen zu können: über Wahlen, über die Mitgliedschaft in Parteien, mittels Petitionen, Bürgerbegehren und Demonstrationen usw. In einem begrenzten Sinn ist das auch der Fall, z. B. in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Einführung eines Mindestlohnes oder der vorübergehenden Absenkung des Rentenalters auf 63 Jahre.

Ein System der Meinungssteuerung sorgt dafür, dass demokratische Bewegungen eine Spielwiese mit begrenzter Einflussmöglichkeit haben. In der Regel funktioniert das, ohne dass daraus öffentliche Debatten um Grundfragen der Politik werden. Initiativen wie die #MeToo-Bewegung werden über Monate hinweg gepuscht. Proteste oder Bewegungen gegen die Ungerechtigkeiten der neoliberalen Weltordnung oder für die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums kochen kurz hoch, um dann schnell wieder von der politischen Agenda zu verschwinden.

Die parlamentarische Demokratie und ihre Institutionen haben zusammen mit den Leitmedien in der Bundesrepublik ihre außerordentliche Integrationskraft, ihre Fähigkeit zur Beschaffung von Massenloyalität für die Regierenden vielfach unter Beweis gestellt: mittels sozialer Reformen, mittels der Bindung engagierter Bürgerinnen und Bürger an Parteien, mittels der Fähigkeit, Gegenwehr in Zustimmung zu verwandeln.

Als die Konzerne, Banken und Unternehmerverbände infolge der Mitte der siebziger Jahre beginnenden Verwertungskrise des Kapitals auf Sozialdemontage umschalteten, taten das auch die Regierenden. Die SPD sorgte in den Jahren 2003 ff. unter Gerhard Schröder dafür, dass die Sozialkürzungen der Agenda 2010 im Bundestag und Bundesrat die parlamentarischen Hürden nehmen konnten. Der Preis für die SPD war hoch: eine bis heute anhaltende Vertrauenskrise. Aus einer 40-Prozent-Partei wurde eine 20-Prozent Partei. Beachtlich war der Protest von Hunderttausenden auf den Montagsdemonstrationen im Herbst 2004. Aber schon ein Jahr später war wieder Ruhe.

Auch mit antikapitalistischen Parteien kam man einigermaßen zu Rande. Als den Regierenden mit der Konstituierung der Linkspartei im Jahre 2007 im Ergebnis der Proteste gegen die Agenda 2010 eine stabile System­opposition im Bundestag erwuchs, brauchte sie nur wenige Jahre, um diese zu mäßigen und in Teilen zu inte­grieren. Als wirksam erwiesen sich die finanziellen Mittel der Parteien-, Fraktions-, Stiftungs- und Abgeordnetenfinanzierung[9] (jährlich um die 100 Millionen Euro) und nicht zuletzt die „Integrationsfalle Regierungsbeteiligung“. Je erfolgreicher eine linke Partei ist, umso mehr Geld und Ämter im „Parteienstaat“ erhält sie. Es entwickelt sich (wie dies Anfang des 20. Jahrhunderts schon bei der SPD zu beobachten war) eine Sozialschicht von Abgeordneten und Mitarbeitern, die von der Partei leben und eigene Interessen ausbilden. In der Linkspartei sind das heute etwa 2 300 Personen. Keineswegs automatisch, aber als Trend passt sich die Partei an den herrschenden Politikbetrieb an.

Drittens: Die parlamentarische Demokratie ist auf neue Weise belastbar. Sie bereitet sich auf Zeiten ernster politischer Krise vor.

Wie die Polizeieinsätze gegen die Hamburger Proteste im Juli 2017 gegen den G-20-Gipfel oder auch die Aktionen gegen „Linksradikale“ in Leipzig und Berlin deutlich machen, nimmt die punktuelle Repression gegen die radikale Linke und gegen demonstrierende Bürgerinnen und Bürger zu. Hinzu kommt die präventive Gewaltausweitung. Vor allem der Überwachungsstaat rüstet weiter auf. Eine neue Oktoberrevolution ist nicht in Sicht, derzeit nicht einmal eine politische Bewegung, die die Kraft hätte, eine Revitalisierung des Sozialstaates durchzusetzen. Aber neue finanzpolitische, ökonomische und soziale Krisen des Kapitalismus kündigen sich an.

Die Haltung zur „Demokratie“ stellt sich dabei anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Nicht mehr deren Zerstörung steht auf der Agenda des Kapitals, sondern die Bewahrung und der Ausbau einer Situation, da die „demokratische(n) Institutionen durch eine Mixtur aus ausgeklügelten Polittechniken der Eliten, einer ausufernden politischen Lobbymacht transnationaler Konzerne und der Passivität frustrierter Bevölkerungen sukzessive unterspült werden.“[10] Damit aber ist die Ersetzung der parlamentarischen Demokratie durch eine offene terroristische Diktatur in aller Regel unnötig. Angesagt sind die Nutzung und Flankierung „der Demokratie“ durch Repression und Repressionsapparate bis hin zu Organisationen des „dunklen“ bzw. „tiefen Staates“.[11] Überdies verschaffen rechtspopulistische Bewegungen und Parteien dem Neoliberalismus in der Gesellschaft auf neue Weise „Rückhalt in den Massen“, erweitern die Möglichkeiten des politischen Manövrierens unter nationalistischen und rassistischen Parolen.

Mit der parlamentarischen Demokratie verfügt die herrschende Klasse heute über Möglichkeiten, selbst unter den Bedingungen einer tiefen ökonomischen und politischen Krise des Kapitalismus die lohnabhängige Klasse politisch unter Kontrolle zu behalten (wenn diese das denn hinnimmt). Die jüngsten Entwicklungen in Griechenland sprechen für eine solche Einschätzung: Von 1967 bis 1974 übernahm dort ein „Regime der Obristen“ die Herrschaft, um wieder „politische Stabilität“ zu schaffen. Seit 2009 verlor das Land ein Viertel seiner Wirtschaftskraft. Die Arbeitslosenquote stieg auf 27 Prozent. Zwei Millionen Menschen gehören mittlerweile zum „Ernährungsprekariat“. 150 000 Unternehmen gingen Pleite. Immer wieder gibt es landesweite Streiks. Dennoch hat die parlamentarische Demokratie Bestand, wenn auch tatsächlich nur als Fassade. EU-Institutionen bestimmen, was im griechischen Parlament geschieht. Selbst aus der Sicht der Exekutive ist das Budgetrecht Fiktion. Die linke Regierungspartei Syriza mit Ministerpräsident Alexis Tsipras wollte noch am Abend des Wahlsieges ein Zeichen für erfolgreiche linke Politik in der EU setzen. Sie ist zum Erfüllungsgehilfen des Neoliberalismus geworden.

1    Ferdinand Kirchhoff, Demo-crazy, FAZ vom 21. Dezember 2017.

2    Johannes Agnoli, Transformation der Demokratie, in Konturen, Zeitschrift für Berliner Studenten, Nr. 31, 1968, zitiert nach: Ekkehard Lieberam, Parlamente und Parteien, Marxistische Lesehefte 2, Berlin 1998, S. 36.

3    Maurice Duverger. Demokratie im technischen Zeitalter, München 1973, S. 144

4    Karl Marx, Elend der Philosophie, MEW, Band 4, Berlin 1977, S. 109.

5    W. I. Lenin, Staat und Revolution, LW, Band 25, Berlin 1981, S. 405.

6    W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW, Band 22, Berlin 1960, S. 305.

7    Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1950, S. 416.

8    Manfred Sohn, Eunuchenparlament, UZ vom 12. 12. 2017.

9    Vgl. Ekkehard Lieberam, Zehn Jahre Linkspartei, Gegenmachtstrategie oder Mitregieren, Geraer Sozialistischer Dialog, Bulletin, Ausgabe 52/Juli 2017, S. 22 f.

10    Hans-Jürgen Urban in Anlehnung an Colin Crouch: Hans-Jürgen Urban, Stabilitätsgewinn durch Demokratieverzicht, Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2011, S. 78.

11    „Die wirklich bedeutsamen politischen Entscheidungen werden, so meinen sie (die Herausgeber – E. L.), in den Tiefenstrukturen und ‚Paralleluniversen der Macht‘ hinter dem Theatervorhang getroffen. Dies schließt alle Formen der Machtperversion wie Überwachung, Folter, Raub des Volksvermögens, Geheimdienstverbrechen, Angstproduktion bis hin zu Kriegsvorbereitungen und die Durchführung von Angriffskriegen ein.“ Ulrich Mies, Jens Wernicke (Hg.), Einleitung, Fassadendemokratie und tiefer Staat, Wien 2017, S. 10 f.

Ekkehard Lieberam ist Rechts- und Politikwissenschaftler


und Vorsitzender des Marxistischen Forums Sachsen in der Partei „Die Linke“

Auszug aus Marxistische Blätter 2/2018

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"Stabil, beweglich und integrierend", UZ vom 23. März 2018



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