Alle reden von Krise. Wir nicht. Wir reden von Nachbarschaft. So ungefähr ließe sich die Reaktion im Hamburger Stadtteil St. Pauli auf die Unterbringung von etwa 1000 Flüchtlingen in wegen Sommerpause leerstehenden Gebäuden in den Messehallen zusammenfassen.
Kurz nachdem Mitte August bekannt wurde, dass dort im großen Stil Flüchtlinge untergebracht werden sollen, wurde eine Stadtteilversammlung einberufen. Es wurde mit reger Beteiligung, allerdings im überschaubaren Ausmaß gerechnet. Deshalb sollte diese im Centro Sociale stattfinden, einem Stadtteil-Kulturzentrum gegenüber dem St. Pauli-Stadion. Doch schon sehr schnell platzte das Zentrum aus allen Nähten. Kein Problem, denn Nachbarschaft und Nachbarschaftshilfe werden in St. Pauli groß geschrieben. So zog die Gesellschaft spontan um in den Musikclub „Knust“ nebenan. Da wurde nicht groß lamentiert, sondern Arbeitsgruppen gegründet, z. B. eine für Deutschunterricht. Es fanden sich sage und schreibe 75 Pädagoginnen und Pädagogen spontan bereit, den Flüchtlingen Deutschunterricht zu erteilen. Eine Gruppe wollte sich um Kleiderspenden kümmern, eine andere um Hygiene-Artikel, die nächste um Lebensmittel. Am Ende des Treffens stand das Gerüst für eine inzwischen straff organisierte Hilfs-Logistik, die mittlerweile auch einen Teil des Bedarfs anderer Unterkünfte in anderen Stadtteilen deckt. Das war der Ursprung der unglaublich aktiven und effektiven Initiative „Refugees welcome – Karoviertel“.
Doch trotz aller Hilfsbereitschaft: über allem ehrenamtlichen Engagement steht die Forderung nach bedingungslosem, dauerhaftem Bleiberecht für alle sowie die Unterbringung in Wohnungen. Bezahlbarer Wohnraum für alle. Mit dieser ersten Stadtteilversammlung waren die Flüchtlinge sozusagen eingebürgert, St. Pauli hatte 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr. Für die nächste Stadtteil-Versammlung wurde dann vorsorglich gleich in das Vereinsheim des 1. FC St. Pauli (FCSP) geladen. Daran nahmen 900 Personen teil.
Zwei Tage nach der ersten Stadtteil-Versammlung saßen dreißig Kinder im Bus, und unternahmen eine Stadtrundfahrt. Gesponsert vom FCSP. Der Ausflug beinhaltete eine Hafenrundfahrt, Pizza-Essen, gespendet von einem ansässigen italienischen Lokal, kostenlosen Eintritt bei allen Fahrgeschäften des Hamburger Doms, und eine Führung durch das Millerntor-Stadion. Grillfeste wurden organisiert, das Centro Sociale stellte seinen Betrieb etwas um und fungiert seither als Treffpunkt für die Flüchtlinge.
„Liebe Flüchtlinge, wir haben Bock mit und nicht gegen Euch zu leben“, beginnt ein Aufruf der Kiez-Kicker, in dem sie für Toleranz werben und um Spenden bitten. Außerdem spendierten sie 1 000 Freikarten für das nächste Heimspiel, und zwar sowohl für die Flüchtlinge als auch die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Die Zeit vor dem Spiel sollte zum gegenseitigen Kennenlernen für alle St. Pauli-Fans dienen.
Die Hilfsbereitschaft geht allerdings weit über St. Pauli hinaus, und wird auch Flüchtlingen in anderen Stadtteilen zuteil. In sozialen Netzwerken im Internet wird zu Spendensammlungen aufgerufen, sich zum backen, kochen und grillen für und mit den Flüchtlingen verabredet. Manch eine verhökert auf diesem Wege einige Habseligkeiten, um z. B. Babynahrung finanzieren zu können. Eine Gruppe bildete sich, in der fleißige Bienchen im Akkord Beutel anfertigen, in denen den Flüchtlingen Hygiene-Artikel ausgehändigt werden. Die Produktpalette soll um Schlafbrillen erweitert werden. Tipps werden ausgetauscht, wie Nachbarschaftshilfe direkt vor der eigenen Haustür organisiert werden kann. Drogeriemärkte stellen Spendenboxen auf, in denen die Kundschaft z. B. Hygiene-Artikel deponieren kann. Zum Teil können Waren, die als Spenden gedacht sind, zum Einkaufspreis erworben werden. Das Miniaturwunderland in der Speicherstadt lädt Flüchtlinge und ehrenamtliche Begleitung zum kostenlosen Besuch ein.
mit und nicht gegen Euch zu leben“
Die Flüchtlinge planten für vergangenen Samstag eine Protestaktion gegen ihre Unterbringung in der Massenunterkunft in den Messehallen. Dazu kam es aber nicht, denn die potentiellen Ehrengäste des FCSP wurden aus der Stadt gejagt. Am Samstagmorgen wurden 600 der etwa 1000 in den Messehallen einquartierten Flüchtlinge angewiesen, die wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, und sich reisefertig zu machen. Es hieß, sie würden umverteilt in andere Bundesländer, z. T. nach Schleswig-Holstein oder Sachsen. Angeblich, weil Platz geschaffen werden müsse für die Flüchtlinge aus Ungarn, die von Österreich an die BRD weitergereicht wurden. Die zuständigen Behörden haben die Gelegenheit genutzt und die Strukturen, die mit Zutun von Tausenden Menschen im Stadtteil entstanden sind, zu zerschlagen. Ob das aus purer Dummheit, Ignoranz, oder Böswilligkeit geschah, ist Interpretationssache. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sich behördliche Dummheit ausgerechnet Samstags Bahn bricht …
Die Betreffenden bekamen ein Schreiben ausgehändigt, in deutscher Sprache, versteht sich, in dem der Zielort angegeben war, das gleichzeitig als Ticket für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) galt, und zum Erhalt einer entsprechenden Bahn-Fahrkarte berechtigte. Am Hauptbahnhof waren zwei Schalter zu diesem Behufe reserviert. Dass die Flüchtlinge größtenteils überhaupt nicht verstanden, was in dem Schrieb stand, nicht wussten, wie sie den Hauptbahnhof erreichen sollten, geschweige denn, wo der Ort wohl wäre, der ihr Reiseziel sein sollte, interessierte die Behörden nicht.
Doch selbst in dieser Situation wusste die Initiative „Refugees welcome – Karoviertel“ Rat: flugs wurde ein sehr umsichtiger Leitfaden zur Begleitung der unfreiwillig Reisenden erstellt, den Begleitpersonen, die sich selbstverständlich auch zahlreich einfanden, an die Hand gegeben.
Derweil begrüßte das offizielle Hamburg, in dem Falle in Gestalt der Mitarbeitenden des Trägers „fördern und wohnen“, in bekannter Manier die Neuankömmlinge. Diese hatten tagelang am Budapester Bahnhof campiert, lediglich mit Zugang zu frischem Wasser, sechs Toiletten für mehrere Tausend Menschen, ohne Lebensmittel, jedenfalls nicht von den zuständigen Behörden gestellt, sondern gespendet, hatten sich dann aufgemacht zu einem Gewaltmarsch über die Autobahn in Richtung Österreich, waren schließlich in Busse gesetzt, zur Grenze gebracht und dort abgeholt worden, um nach einer kurzen Nacht in einer Unterkunft in Wien auf eine mehrstündige Zugfahrt nach Hamburg weitergeschickt zu werden. Die freundliche Begrüßung in Hamburg mit Trinkwasser, Lebensmitteln, Regenschirmen, etc. wurde ausnahmslos von freiwillig Helfenden organisiert.
Als sie nun nach dieser Tortur in den Messehallen ankamen – wofür selbstverständlich auch Ehrenamtliche gesorgt hatten – hieß es dann erst einmal warten. „Es goss in Strömen, drinnen ein leerer 200 qm Raum, draußen Hunderte klatschnasse Menschen. Spenden sollten mitten auf den Platz vor dem Gebäude abgelegt werden. Ein guter Platz, weil vollkommen leer, vollkommen leer wegen des Starkregens“, wie es ein Beteiligter auf seiner facebook-Seite beschreibt. Dass trotzdem alles einigermaßen glimpflich abging, die Spenden z. B. einen trockenen Platz bekamen, ist der Umsicht der Ehrenamtlichen zu verdanken.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag waren in Hamburg viele Menschen auf den Beinen. Viele, die Trinkwasser, Kuchen, Obst, eine Stulle, Regenschirme oder auch -jacken am Bahnhof, wo die Flüchtlinge gegen 22 Uhr ankommen sollten, vorbeibrachten. Frauen, Männer, Junge, Alte, Deutsche, Nicht-Deutsche …
Nur einer ließ sich in seiner wohlverdienten Wochenendruhe nicht stören: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD). Er schweigt zu den Flüchtlingen, die über Österreich aus Ungarn eingereist sind, ebenso, wie darüber, was aus den Flüchtlingen in den Messehallen werden soll, wenn der Messebetrieb wieder beginnt.
Eines aber ist klar: in St. Pauli stand nie zur Debatte, dass ein Teil der Flüchtlinge gehen muss, wenn neue ankommen. Für die gilt genauso: Refugees welcome! Aber mit bedingungslosem, dauerhaftem Bleiberecht und in bezahlbarem Wohnraum für alle!