Die Zeiten der unbeschwerten Nutzung von „Big Data“ sind für die Polizei in Hessen und Hamburg erst einmal vorbei. Das Bundesverfassungsgericht stoppte am 16. Februar die Nutzung der Fahndungssoftware „Palantir“. Hergestellt und vertrieben wird das Programm von der US-amerikanischen Softwareschmiede gleichen Namens, die sich auf den Einsatz künstlicher Intelligenz im militärischen Bereich spezialisiert hat. Die Bezeichnung „Palantir“ entstammt der Tolkien-Saga „Der Herr der Ringe“ und bedeutet so viel wie „Glaskugel“ – man sieht darin Dinge, die andere nicht sehen. Tatsächlich weiß „Palantir“ fast alles: Durch die algorithmische Aufbereitung großer Datenmengen aus behördlichen und privaten Quellen bei gleichzeitiger Verknüpfung („Datenmatching“) mit individuellen Daten aus den sozialen Medien (Twitter, Facebook, WhatsApp), erzeugt es ein nahezu lückenloses Persönlichkeits- und Bewegungsprofil von einzelnen Menschen oder Gruppen.
Vor vier Jahren wurden die in einem Verfahren zusammengeführten Verfassungsbeschwerden gegen die landespolizeilichen Ermächtigungen zur Überwachung Orwellschen Ausmaßes auf den Weg gebracht. Zu den Beschwerdeführern gehörten die Antifaschisten und Berufsverbote-Opfer Silvia Gingold und Norbert Brinkwald. Unterstützt wurde das Verfahren unter anderem von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), der Humanistischen Union und der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ). Gegen die „Glaskugel-Paragrafen“ 25a des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) und 49 des Hamburgischen Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei führten die Beschwerdeführer zahlreiche Grundgesetzverstöße ins Feld: Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, Bruch des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung und Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Die Karlsruher Richter gaben ihnen – jedenfalls was die Verletzung des Kernbereiches der individuellen Lebensgestaltung betrifft – Recht und stellten die Verfassungswidrigkeit der Regelungen in Hessen und Hamburg in ihrer derzeitigen Form fest. Nachdem die Karlsruher Richter vor zwei Wochen weite Teile des Polizeigesetzes in Mecklenburg-Vorpommern gekippt hatten, sind nun zentrale Elemente zweier weiterer Landespolizeigesetze außer Kraft gesetzt worden.
Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) zog im Juli 2018, nach sechs Monaten Laufzeit des Programms, eine verfrühte Bilanz, als er meinte, er habe „die Polizeiarbeit damit in ein neues Zeitalter gehoben“. Schon kurz nachdem „Palantir“ seine Arbeit aufgenommen hatte, wurde laut Beuth „ein bevorstehender Terroranschlag verhindert“. Und bei diesem einen Fahndungserfolg blieb es. Die Rede vom Terroranschlag ging indes am Thema vorbei: Ein 17-jähriger Iraker hatte 75 Gramm Schwarzpulver aus Chinaböllern gesammelt. Belege für einen angeblich bevorstehenden oder in letzter Minute verhinderten Terroranschlag konnte das Gericht nicht finden. Am 19. Februar 2020 tötete der Rassist Tobias Rathjen in Hanau zehn Menschen und sich selbst. Er hatte seit mehreren Jahren eine breite Datenspur antisemitischer und islamophober Pamphlete und Videos im Internet hinterlassen, war im Besitz eines Waffenscheins trotz attestierter psychischer Störung, pflegte Kontakte zur Nazi-Gruppierung „Knights Templar“ in den USA und absolvierte registrierte Schießtrainings in München. In der Glaskugel des hessischen Landeskriminalamts war gleichwohl von ihm nichts zu sehen. Möglicherweise war der Algorithmus auf dem rechten Auge blind.