Muss der Brandanschlag von Solingen neu aufgearbeitet werden?

Spitzeleinsatz wirft Fragen auf

Die Wahrheit kommt immer ans Licht, lautet ein Sprichwort – und genau so scheint es sich nun auch im Fall staatlich eingesetzter Spitzel in die linke Szene so darzustellen. So wirft ein bereits am 19. Juni von anonymen Verfassern auf der linken Internetplattform „Indymedia.org“ veröffentlichtes Outing über den angeblichen V-Mann des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), Jan (Johannes) Pietsch, eine Reihe von Fragen auf. Pietsch soll nach bisherigen Informationen der Antifaschisten in der Zeit von „Juni 1989 bis Ende Januar 1999“ auf linke Strukturen in Wuppertal angesetzt worden sein. Infolge des Brandanschlags vom 29. Mai 1993 in Solingen habe er seine Spitzeltätigkeit auch dorthin ausgedehnt.

Zur Erinnerung: Damals, zu Beginn der 1990er Jahre, kam es in Deutschland zu einem Aufflammen brutalster rassistisch motivierter Gewalttaten. Noch heutzutage gelten Städte wie Mölln, Rostock, Hoyerswerda und eben auch Solingen als Synonym für die damals von Neonazis begangene mörderische Serie von Brandanschlägen.

In Solingen soll eine Gruppe von mehreren Jugendlichen am 29. Mai 1993 einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in der Untere-Werner-Straße 81 begangen haben. Dabei kamen fünf Frauen und Mädchen ums Leben. 14 weitere Personen werden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Im Oktober 1995 verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf vier Solinger, die zur Tatzeit zwischen 16 und 23 Jahren alt waren und als Teil der rechten Szene Solingens galten. Der Angeklagte Markus G., der die barbarische Tat damals als einziger Beschuldigter gestanden hatte, wurde wegen fünffachen Mordes, sowie 14-fachen Mordversuches und besonders schwerer Brandstiftung, zu einer Haftstrafe von 15 Jahren – die drei Mitangeklagten zu jeweils zehn Jahren Haft – verurteilt. Andere Verurteilte bestreiten ihre Tatbeteiligung noch heute.

Da drei der vier Täter damals in der Solinger Kampfsportschule „Hak Pao“ verkehrten, die von Bernd Schmitt betrieben wurde, der ebenfalls als V-Mann tätig war, stellt sich nunmehr die Frage, wie viele Spitzel rund um das Mordgeschehen tatsächlich im Einsatz waren und welche Rolle sie diesbezüglich spielten. So soll der jüngst enttarnte V-Mann Pietsch unter anderem den Auftrag gehabt haben, zu verhindern, „dass die V-Mann-Tätigkeit von Bernd Schmitt nicht vorzeitig von der autonomen und antifaschistischen Szene aufgedeckt wird“, wie Antifaschisten bei ihrer Veröffentlichung auf der Plattform „Indymedia.org“ betonen. Schmitt war maßgeblich am Aufbau des paramilitärischen „Deutschen Hochleistungskampfkunstverbands“ (DHKKV) beteiligt.

In einem im Mai dieses Jahres veröffentlichten Interview mit den „Nachdenkseiten“, räumte der Beschuldigte ein, dass er über die Tätigkeit von Bernd Schmitt als V-Mann schon vor dessen Enttarnung informiert war. Auch „an einem Anschlag auf den NPD-Funktionär Wolfgang Frenz“, der „wie Pietsch als V-Mann auf der Gehaltsliste des LfV NRW stand“ soll der V-Mann – den antifaschistischen Recherchen zufolge – beteiligt gewesen sein. Gleiches gilt für einen Einbruch beim früheren Versandhändler für neofaschistische Musik, Thorsten Lemmer.

Vieles spricht nun dafür, das gesamte Geschehen rund um den Brandanschlag von Solingen neu aufzuarbeiten. Dass die Tätigkeiten der V-Leute noch zu Konsequenzen führen könnten, gilt hingegen nicht nur aufgrund verstrichener Verjährungsfristen als weitestgehend ausgeschlossen. Auch die Möglichkeiten der Kontrolle von Inlandsgeheimdiensten tendieren erfahrungsgemäß nahezu gegen Null. Mitunter stellt sich jedoch die Frage, ob es auch nur einen von Nazis und Rassisten in den letzten Jahrzehnten begangenen Anschlag gibt, in den keine Informanten oder Mitarbeiter deutscher Inlandsgeheimdienste beteiligt sind oder waren.

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