Angriffe auf russisches Frühwarnsystem folgen lang gehegtem Plan aus den USA

Spiel mit dem Nuklearkrieg

Von Karin Schröter

Am 23. Mai 2024 verübten die ukrainischen Nationalisten im Krieg gegen Russland einen Drohnenangriff auf eine Station des russischen Frühwarnsystems zur Aufklärung und Erfassung anfliegender strategischer nuklearer ballistischer Gefechtsköpfe bei Armawir in der Region Krasnodar. In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 2024 folgte eine ähnliche Attacke auf ein vergleichbares System bei Orsk in der Nähe von Oren-burg an den Südausläufern des Ural.

Die Aufklärung und Erfassung dieser Gefechtsköpfe ist die Voraussetzung dafür, noch rechtzeitig einen strategischen Kernwaffengegenschlag auszulösen, denn der Gegner jenseits von Atlantik und Pazifik plant für einen „großen Krieg“ zunächst die weitgehende Ausschaltung des strategischen Antwortpotenzials Russlands, und zwar gemeinsam mit dessen politischen und militärischen Führungszentren. Bevölkerungs- und Industriezentren als Ziele sind dem nachgeordnet.

Endziel aus dem Kalten Krieg

All das hatten die USA bereits im Kalten Krieg geplant: In einem strategischen Grundsatzdokument von 1982, während der Reagan-Präsidentschaft, hieß es unter anderem, die Strategie des nuklearen Krieges basiere auf der sogenannten Enthauptung, wobei Schläge gegen die politische und militärische Führung sowie gegen die Nachrichtenverbindungen der Sowjetunion gemeint waren. Einer der Strategieberater Reagans formulierte ebenso flapsig wie vielsagend, es gehe darum, dem sowjetischen Huhn den Kopf abzuschlagen. Gemeinsam mit einem anderen forderte er als Endziel: „Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen.“

Warnung aus Moskau

Einen vernichtenden Antwortschlag führen zu können, war Moskaus Warnung an den antizipierten Aggressor, er würde selbst verbrennen, sollte er es zum Äußersten kommen lassen wollen. Darin bestand der Kern der sowjetischen Abschreckungsdoktrin; das war und ist bis heute das Fundament dafür, dass es bisher selbst die risikobereitesten Kreise nicht wagten, einen dritten Weltkrieg gegen Russland auszulösen.

Der Weg dorthin führte vom Bruch des USA-Kernwaffenmonopols mit dem ersten Test einer „Atombombe“ durch die UdSSR am 29. August 1949 über den nachfolgenden Aufbau eines strategischen Nuklearpotenzials durch die So­wjet­union (entscheidendster Meilenstein: Beschluss vom 17. Dezember 1959 zur Bildung der Strategischen Raketentruppen der UdSSR als fünfte und zugleich wichtigste Teilstreitkraft der Sowjetarmee) bis hin zur heutigen Kombination der „Raketentruppen Strategischer Bestimmung der Russischen Föderation“ und der „Luft- und Weltraumstreitkräfte der Russischen Föderation“. Im Bestand Letzterer gibt es neben den Waffengattungen der Luft- und der Weltraumstreitkräfte die Waffengattung der Truppen zur Verteidigung gegen Luft- und Raketenangriffe. Und genau zu jenen gehören die von der Ukraine angegriffenen Frühwarnstationen bei Armawir und Orenburg.

Die Frühwarnstationen unterteilen sich technisch in „Woronesh-M“, „Woronesh-WP“, „Woronesh-DM“, „Woronesh-SM“ beziehungsweise „Woronesh MSM“. Außer bei Armawir und Orsk befinden sich Stationen dieses in seiner Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzenden russischen Frühwarnsystems bei Lechtussi (Leningrader (!) Gebiet), Pionerski (Kaliningrader Gebiet), Usolje-Sibirskoje (Irkutsker Gebiet), Jenisseisk (Region Krasnojarsk), Barnaul (Region Altai), Workuta (Republik der Komi), Olenegorsk (Murmansker Gebiet) und Sewastopol (Krim).

Nebenbei: Die USA verfügen mit dem Frühwarnsystem gegen Ballistische Raketen (BMEWS), das am 1. Oktober 1960 in Betrieb genommen und dessen Aufbau 1963 abgeschlossen wurde und das zudem mit dem am 12. September 1957 eingerichteten Nordamerikanischen Luftverteidigungskommando (NORAD) ergänzt wird, über vergleichbare, natürlich mittlerweile erheblich modernisierte Militärtechnik.

Im Auftrag Washingtons

Die russischen Frühwarnstationen besitzen für den Krieg auf dem Gebiet der früheren Ukrainischen Sowjetrepublik (nicht der Ukraine (!), denn die Krim sowie die Gebiete Lugansk, Donezk, Saporoshje und Cherson haben sich vom ukrainischen Staatsverband abgespalten) nicht die geringste Bedeutung. Die Angriffe auf sie dienten offensichtlich dem Zweck, herauszufinden, wie rasch und wie zuverlässig diese Objekte ausgeschaltet werden können. Denn sie sind Auge und Ohr des russischen strategischen Militärarsenals. Ohne sie ist es völlig blind, nähert es sich der Nutzlosigkeit. Dies alles mit Blick auf einen Russland entwaffnenden blitzartigen Erstschlag mit strategischen Kernwaffen. Nur so kann es für die Angreifer einen Funken Hoffnung geben, aus einem thermonuklearen (dritten) Weltkrieg als Sieger hervorzugehen, ja, überhaupt selbst zu überleben.

Insofern kann es die ukrainischen Angriffe auf die genannten, weitab vom Kriegsschauplatz gelegenen Objekte nur gegeben haben im Wissen der USA darum, ja, mit Billigung und im Auftrag Washingtons. Mehr noch: Mit direkter Unterstützung der USA über ihre kosmischen Aufklärungs- und Feuerleitsysteme.

Die Ergebnisse sind leicht erklärt:

  1. Wir haben es zu tun mit einem weiteren Schritt der Eskalation des Krieges durch den Westen und die ukrainischen Nationalisten.
  2. Wir haben es zu tun mit einem eklatanten Versagen der russischen Luftverteidigung. Doch nie und nirgendwo wird so schnell gelernt wie im Krieg: Nach anderen erschreckenden Fehlern der russischen Militärführung wird auch diese Scharte rasch ausgewetzt werden mit einer neuen Qualität der Luftabwehr gerade auch für alle strategischen militärischen Objekte Russlands.
  3. Der Westen, allen voran die USA, wird dies begriffen haben und bei seinen militärischen Planungen berücksichtigen, wird seine ukrainischen Marionetten zurückpfeifen und sie wohl von ähnlichen Hasardeurstücken eher abhalten.

Die ukrainischen Attacken auf russische Anlagen der strategischen Verteidigung im Mai 2024 waren ein extrem gefährliches Spiel mit dem alles verheerenden nuklearen Weltbrand. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Militärausschusses der NATO höchster Soldat des Bündnisses, warnte in einem Zeitungsinterview am 30. Mai 2024 mit allerhöchstem Ernst: „Derartige Angriffe gefährden auf unverantwortliche Weise das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland und können katastrophale Folgen haben.“ Und an anderer Stelle: „Dies ist eine wirklich verantwortungslose Maßnahme eines politischen Hasardeurs.“

Gerade wegen solcher und vieler anderer realistischer politischer und militärischer Auffassungen ist Kujat für die Baer­bocks, Roths, Kiesewetters, Hofreiters, Fücks/Becks und für andere bellizistische Abenteurer zu einem zunehmenden Ärgernis geworden.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Spiel mit dem Nuklearkrieg", UZ vom 21. Juni 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit