Drei Jahre „Inklusionsgesetz“ in NRW – eine Zwischenbilanz

Sparzwang und schöne Worte

Seit dem 16. Oktober 2013 gilt in NRW das Inklusionsgesetz. Vollständig heißt es „Erstes Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz)“. Im Protokoll des Landtags wird unter „A“ das Problem beschrieben: Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind in das allgemeine Bildungssystem einzubeziehen, nachdem die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 durch Deutschland ratifiziert und verbindlich geworden ist. Artikel 24 handelt von der Bildung.

Unter „B“ steht die Lösung: „Inklusive Bildung und Erziehung in allgemeinen Schulen werden im Schulgesetz NRW als Regelfall verankert.“ Da künftig gemeinsam gelernt werden soll, können die Schulträger auf die „Fortführung aller ihrer Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache verzichten.“

Alternativen werden unter „C“ ausgeschlossen.

Unter „D“ landet der Landtag schon beim Thema Kosten. Künftig solle der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung an allgemeinen Schulen kontinuierlich steigen, an Förderschulen entsprechend sinken. „Derzeit lösen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf … einen Lehrerstellenbedarf nach der Schüler/Lehrer-Relation ihres sonderpädagogischen Förderschwerpunkts aus. Sie werden nicht bei der Berechnung des Lehrerstellenbedarfs des Bildungsgangs der allgemeinen Schule berücksichtigt.“ Hier liegt der Hase im Pfeffer: Die Förderschulen haben einen erheblich höheren Personalaufwand, sind teurer als die allgemeinen Schulen. Folglich lockt hier ein Sparpotential.

Welches Ziel?

In der Tat fordert die UN-Behindertenrechtskonvention die Gewährleistung eines integrativen Bildungssystems, allerdings mit dem Ziel, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen“ und sie „zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen“. Es hat sich die Rechtsauffassung durchgesetzt, dass diese Teilhabe nur durch das Recht auf Inklusion in der allgemeinen Schule zu sichern sei.

Indessen ist die Verhinderung solcher Teilhabe nicht allein durch den Spardrang der Landesregierung begründet. Für andere Zwecke fehlt es nicht an Geld. Das übergeordnete Ziel ist die Aufrechterhaltung sozialer Selektion. Ihr dient unser vielgliedriges Schulsystem mit Bedacht, Sorgfalt und wachsendem Erfolg.

Zurück an die Förderschule

Die GEW NRW hat Daten an den Schulen erhoben und die Ergebnisse im November 2015 veröffentlicht. Danach hapert es an allen Ecken und Enden. Es fehlt in den allgemeinen Schulen an sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrern, 75 Prozent der befragten Schulleiter bemängeln das. Die „Gemeinsam Lernen“-Klassen sind zu voll. Sie sollten nicht mehr als 20 Schüler haben, aber bei 63 Prozent beträgt die Klassenfrequenz immer noch 21 bis 26 Schüler, bei 26 Prozent sogar mehr als 25 Schüler, unterdessen werden aus den Förderschulen Lehrer abgezogen und in der Folge dort die Klassenstärken erhöht. Insgesamt ist der Förderbedarf höher als vermutet, je nach Schulform unterschiedlich. Am höchsten ist er in den Hauptschulen (14,7 Prozent), am geringsten an Gymnasien. Gedeckt wird er ohnehin nicht. Vor diesem Hintergrund kehren viele Schüler mit Förderbedarf wieder an Förderschulen zurück, im Schnitt drei Schüler pro Jahr und Schule. Der Personalbedarf ist generell zu niedrig angesetzt.

Eine Fachtagung der GEW NRW am 11. Mai 2016 forderte als Konsequenz 7 000 zusätzliche Stellen. Am 25. Mai haben sich die verschiedenen Lehrerverbände in NRW zusammengetan, um den Finger in die Wunde zu legen: Der konservative Philologenverband, der ebenso ständische VBE und der Verband Sonderpädagogik haben gemeinsam mit der GEW die „Mülheimer Erklärung“ veröffentlicht. Die NRW-Lehrerverbände stellen fest, dass die Menge der Schülerinnen und Schüler, die von Schulen des „Gemeinsamen Lernens“ kommen und zur Förderschule wechseln, wächst. Die Unzufriedenheit bei Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften aller Schulformen nehme zu. Gerade engagierte Lehrkräfte beklagten die Verschlechterungen der Lage, seien massiv enttäuscht und wollten wieder zurück an die Förderschulen. Den Lehrerverbänden geht es um die Entwicklung und Sicherung von Qualität des Unterrichts und der Förderung. Sie fordern „deutlich mehr Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung, kleine Klassen, ein erweitertes Angebot an Fortbildungen für die Lehrkräfte, eine dem Bedarf angepasste räumliche und materielle Ausstattung und mehr Zeitressourcen für Absprachen und Vorbereitung.“

Das Land zahlt nicht

Seit dem 9. Juli 2014 sieht das „Gesetz zur Förderung kommunaler Aufwendungen für die schulische Inklusion“ für alle Städte und Gemeinden in NRW einen Belastungsausgleich von 25 Millionen Euro und eine jährliche Inklusionspauschale von 10 Millionen Euro vor. Höherer Raumbedarf etwa auf Grund geringerer Klassenfrequenzen bleibt in den Berechnungen unberücksichtigt.

Der Städte- und Gemeindebund NRW schätzt die kommunalen Inklusionskosten höher ein und drohte im Juli 2015, er werde „offene Fragen im Zusammenhang mit den Kosten der schulischen Inklusion durch den Verfassungsgerichtshof NRW klären lassen.“

Beispielsweise würden sich, so der Städte- und Gemeindebund in seiner Untersuchung vom Juni 2013, die geschätzten Investitionskosten allein der Stadt Essen für den Umbau und die Ausstattung der erforderlichen Klassen- und Differenzierungsräume, der Fach- und Therapieräume sowie für die Herstellung von barrierefreien Zugängen zu den Schulgebäuden bis zum Schuljahr 2019/20 auf mindestens 18 Millionen Euro belaufen. Diese Summe sei als Untergrenze zu interpretieren, da weiterhin große Klassen mit bis zu 30 Schülern gebildet werden können.

Schulministerin Sylvia Löhrmann antwortete darauf im September 2013: Sie könne kein Problem erkennen, komme vielmehr zu dem Schluss, dass das 9. Schulrechtsänderungsgesetz keinerlei Kosten entstehen lasse, welche das Land den Kommunen erstatten müsse. Es übertrage den Kommunen mit der Inklusion keine neue Aufgabe.

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"Sparzwang und schöne Worte", UZ vom 4. November 2016



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