Ein Kinokrimi von Dominik Moll

Spannung, die aus Genauigkeit kommt

Ob Komödie, Liebes-, Gangster- oder Actionfilme: Es liegt wohl in der Natur des Genrekinos, dass der dramaturgischen Phantasie mehr oder minder enge Zügel angelegt sind. Western und Gangsterfilm etwa, einst sichere Kassenfüller, in denen am Schluss irgendeine Form von Staatsmacht für den Sieg über das Böse sorgte, sind aus dem Kino verschwunden wie das Kino selbst aus dem Alltag der Medienkonsumenten. Sein Nachfolger TV setzt auf zivilisiertere Unterhaltung: statt in Saloons und Speakeasy-Kneipen spielt der Fernsehkrimi im Polizeirevier oder auf Autobahn-Verfolgungsjagden. Das moralische „Schwänzchen“, dass das Böse nicht siegen darf und jeder Fall aufgeklärt gehört, ist ihm aber geblieben.

Im neuen Kinokrimi „In der Nacht des 12.“ brechen Regisseur Dominik Moll und sein Koautor Gilles Marchand radikal mit solchen Zähmungsregeln. Noch bevor der Zuschauer die ermittelnden Kommissare Yohan (Bastien Bouillon) und Marceau (Bouli Lanners) kennenlernt und ihnen bei der Täterfindung zur Seite springen möchte, bremst ihn eine Einblendung: Der nachfolgende „Fall“ gehört zu jenen 20 Prozent der Fälle, die in Frankreich ungelöst bleiben. Pech gehabt! Kein Täter, keine spannende Verfolgung!

Immerhin gibt es die Tat und die ist grausig genug, dass Moll und Marchand sie nur knapp und wie nebenbei erzählen: In einer Kleinstadt in einem Tal der französischen Alpen kehrt die 15-jährige Clara nachts allein von einer Party heim. Gerade hat sie ihrer Freundin Nanie per Handy eine gute Nacht gewünscht, da überfällt sie ein Unbekannter, übergießt sie mit Benzin und lässt sie sterbend liegen. Rätselhaft wie diese Tat bleibt auch eine kurze, in Abständen einmontierte Szene aus einer leeren Radrennbahn, in der ein einsamer Fahrer nachts seine Runden dreht: Er entpuppt sich später als Kommissar Yohan, der sich so fit halten will. Den Fall hat er soeben von Marceau übernommen, den die Brutalität auch im Ruhestand nicht loslässt.

Durch Claras Handy stoßen die beiden auf Claras Freundin Nanie, die ihnen nur widerwillig Auskunft gibt; sie ist genervt, weil die Polizei vor allem nach den Sexpartnern ihrer toten Freundin fragt, ohne Gespür für die Lebensweise junger Mädchen. Eine Handvoll Namen nennt sie dennoch, alle werden von Yohan und Co. befragt, aber alle haben ein Alibi und wir wissen: das bleibt auch so, nachdem drei Jahre später eine Richterin die Wiederaufnahme des Falls anregt. Spannung entwickeln Moll und Marchand darum nicht minder, sie rührt aus der Originalität und Bodenständigkeit der Polizeiarbeit, die schon Guénas Buch auszeichnete: Ein Kommissar, der sich wie Marceau von seiner schwangeren Frau scheiden lassen will und darum bei Yohan Notquartier nimmt, Kollegen, die sich über den Misserfolg der anderen mokieren oder deren Berichte der Bürodrucker nicht ausdruckt, Überstunden, die geschoben, aber nicht bezahlt werden. Dazwischen die ständigen Teambesprechungen, die oft nur Stillstand offenbaren. Das ist der Stoff für ausgewiesene Charakterdarsteller wie den Belgier Bouli Lanners, der keine mehrteiligen TV-Serien braucht, um Leinwandpräsenz zu etablieren. Der ruhige, gelegentlich an Kirchenmusik erinnernde Soundtrack (Olivier Marguerit) und die passend unspektakuläre Bildgestaltung (Patrick Ghiringhelli) tun ein Übriges, dass man sich ganz auf die Charaktere einlassen kann. Wer will, kann dann noch die Velodrom-Einblendungen als schräge Symbolik für Yohans monotone Arbeit sehen – und das Schlussbild als angemessen trübes Happy End.

In der Nacht des 12.
Regie: Dominik Moll
Unter anderem mit: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg und Sylvain Baumann
Im Kino

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"Spannung, die aus Genauigkeit kommt", UZ vom 13. Januar 2023



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