Pflegereform ermuntert Heimbetreiber zu Tarifabschlüssen auf Mindestlohnniveau

Spahns neuester Schwindel

Mitten im Wahlkampf haben Gesundheits- und Arbeitsministerium einen viel kritisierten Entwurf zur Pflegereform vorgelegt. Darin ist vorgesehen, dass nur diejenigen Träger mit den Kassen im Bereich der Altenpflege abrechnen können, die tarifgebunden sind oder die Beschäftigten gemäß eines Tarifvertrages vergüten. Das klingt gut, ist aber eine Mogelpackung.

In der Altenpflege ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad noch immer sehr gering. Diese Situation und die unpräzisen Formulierungen im Gesetzentwurf laden private Heimbetreiber geradezu dazu ein, Gefälligkeitstarifverträge mit Pseudogewerkschaften wie dem christlichen Gewerkschaftsbund abzuschließen und diese dann in der Fläche einfach zu übernehmen. Im Gesetzentwurf ist zwar die Rede von „Entlohnung gemäß eines Tarifvertrags“, aber an diesen werden keine weiteren Anforderungen gestellt.

Das Bundesarbeitsministerium argumentiert, eine Tarifbindung vorzuschreiben sei verfassungsrechtlich nicht möglich. Wohl aber könnte festgeschrieben werden, welcher Gestalt der Tarifvertrag sein muss, auf den sich Träger beziehen, um weiterhin mit den Pflegekassen abrechnen zu können. Wenn es politisch gewollt wäre, wäre es zum Beispiel leicht möglich, den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst als flächendeckende Bezugsgröße im Gesetz festzulegen. Stattdessen spielt die Politik den Ball zurück auf die schlecht organisierte betriebliche Ebene. Dass es auf diesem Weg zu keiner Verbesserung der realen Situation und der Entlohnung kommen wird, ist abzusehen. Die Unternehmen können nun zu ihren Gunsten Verträge abschließen und das Ganze mit dem Label „Tarifvertrag“ versehen – sogar dann, wenn sie weiterhin nur auf Mindestlohnniveau vergüten.

Der Gesetzentwurf eröffnet zudem die Möglichkeit, einen schlechten Tarifvertrag in einer Region auf andere Unternehmen zu übertragen. Es genügt der Verweis darauf, gemäß eines gültigen Tarifabschlusses zu bezahlen – wie dieser im Detail aussieht, interessiert niemanden mehr. Das ist klassischer Etikettenschwindel. Oder wie die Gewerkschaft ver.di in einer Pressemitteilung schreibt: „Es gibt im Gesetzentwurf keinen Mechanismus, der Gefälligkeitstarifverträge zwischen Pseudogewerkschaften und Pflegeanbietern, die weiterhin keine fairen Löhne zahlen wollen, ausschließt.“ Andere Betreiber könnten sich in der Folge ebenfalls auf einen solchen Dumpingtarifvertrag berufen, so die Gewerkschaft.

Es passt ins Bild, dass der Entwurf eine Evaluation, also die Überprüfung der realen Effekte der Reform auf die Entlohnung der Pflegekräfte, erst für 2025 vorsieht. Bis dahin kann dann gelten: Aus den Augen, aus dem Sinn. Das einzig Gute an der sogenannten Reform ist die theoretische Möglichkeit, die sich durch die klare Benennung eines zeitlichen Rahmens bietet: So ist vorgesehen, dass die Unternehmen bis Herbst 2022 nach Tarif zahlen müssen.

Dieser Etikettenschwindel, seine Folgen und die erwartbaren Manöver privater Pflegebetreiber, sich aus der Verantwortung zu stehlen, kann und muss ein konkreter Anlass sein, das Thema Altenpflege und die Frage der Organisierung der Beschäftigten innerhalb der Gewerkschaft noch viel stärker zu diskutieren. Eine erste Gelegenheit dazu bietet sich schon sehr bald: Am 16. Juni finden bundesweit Proteste anlässlich der Gesundheitsministerkonferenz in Düsseldorf statt. Dies ist eine gute Möglichkeit, auch die wahlkampftaktische Augenwischerei in Bezug auf die sogenannte Pflegereform zu thematisieren.

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"Spahns neuester Schwindel", UZ vom 11. Juni 2021



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