Dokumentarfilm begibt sich auf die Spuren von „Fritz Bauers Erbe“

Späte Gerechtigkeit

Warum erst jetzt? Das ist die Frage, die sich die Überlebenden und ihre Familien stellen, als sie mehr als 70 Jahre nach dem Ende des deutschen Faschismus gegen ehemalige KZ-Wachmänner aussagen. Die Prozesse hätten vor 60, spätestens vor 50 Jahren stattfinden müssen, so Judy Meisel, Überlebende des KZ Stutthof.

Der Frage „Warum erst jetzt“ gehen die Regisseurinnen Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof in ihrem Dokumentarfilm „Fritz Bauer – Gerechtigkeit verjährt nicht“ nach. Die Antworten, die ihnen der Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Rechtswissenschaftler, Nebenklagevertreter und Pflichtverteidiger geben, ist so einfach wie ernüchternd: Weil die BRD keine Verurteilungen wollte.

Fritz Bauer hat in den Auschwitz-Prozessen versucht, die sogenannte Rädchentheorie zu zementieren: Wer als Rädchen in der faschistischen Mordmaschine seinen Beitrag geleistet hat, hat die Morde mit möglich gemacht und ist daher zu verurteilen. Dem folgte die Revision nicht, sie bestand auf dem Einzeltatnachweis. Das heißt, es muss bewiesen werden, dass der Beschuldigte zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Datum anwesend war, als jemand ermordet wurde oder zum Ermorden ausgewählt wurde. Verurteilungen wurden damit quasi unmöglich.

Und so gab es in der Bundesrepublik nur 36.000 Ermittlungsverfahren gegen 170.000 namentlich bekannte Beschuldigte – Prozesse wurden nur gegen 10 Prozent von ihnen geführt. Es gab 6.500 rechtskräftige Urteile, davon nur 1.147 wegen eines Tötungsdelikts. Gegen 63 Prozent der Beschuldigten wurde das Verfahren eingestellt. Nicht nur hat Deutschland keine Sondergesetze zur Verfolgung von NS-Verbrechen erlassen, auch wurde die Rechtsauffassung nicht geändert, im Sinne der Täter blieb der Einzeltatnachweis zwingend.

Das änderte sich erst, als man auch an der Strafverfolgung des 11. September teilhaben wollte. Erst mit der Verurteilung von Mounir al-Motassadeq entfiel der Einzeltatnachweis, er soll den Attentätern des 11. Septembers geholfen haben, Reisen in die USA und nach Afghanistan zu verschleiern und wurde deswegen wegen Beihilfe zum Mord an den 246 Passagieren und Crewmitgliedern der vier Flugzeuge schuldig gesprochen.

Von 2009 bis 2011 kam es dann zum Prozess gegen John Demjanjuk. Er wurde in erster Instanz wegen seiner Tätigkeiten als „Hilfswilliger“ im Vernichtungslager Sobibor wegen Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er starb, bevor der Bundesgerichtshof über die Revision entscheiden konnte.

Den Filmemacherinnen ist ein eindrücklicher Film über Recht und Unrecht in der deutschen Rechtsprechung gelungen mit eindrücklichen Schilderungen von Zeuginnen und teilweise beeindruckenden Bildern. So zum Beispiel, wenn Fritz Bauer selbst zu Wort kommt, projiziert an die Wand des Frankfurter Römers, den Ort des ersten Auschwitz-Prozesses.

Der letzte Fall, dem die Filmemacherinnen folgen, ist der von Bruno Dey. Er war SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof und angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen. Noch 1982 hatte ihn die Polizei zu seinen Tätigkeiten als Zeuge vernommen und festgestellt, dass man einem Wachmann nichts vorwerfen könne. Dem entgegen stehen im Film die Nebenklageanwälte und die, die sie vertreten: Judy Meisel aus den USA und Roza Bloch aus Israel, die Stutthof überlebten und ihre Familien verloren. Judys Enkel nimmt für sie stellvertretend am Prozess teil, die 90-jährige Roza reist selber zum Prozess, um auszusagen. Sie legen Zeugnis ab über das Grauen im Konzentrationslager, über die Morde und darüber, dass niemand „nichts gewusst“ haben kann.

Als Roza von ihrem Anwalt per Telefon erfährt, dass Dey nach Jugendstrafrecht nur zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde, freut sie sich trotzdem unbändig. Es ging nie darum, dass ein Greis ins Gefängnis geht. Sondern darum, dass ein Gericht seine Schuld feststellt. Endlich.

Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht
Regie: Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof
Co-Regie: Jens Schanze
Kamera: Nic Mussell
Im Kino

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"Späte Gerechtigkeit", UZ vom 3. Februar 2023



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