Wie es in der Bundesrepublik zum 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Faschismus kam

Späte Einsicht

Von Ludwig Elm

Der Autor gehörte der Gruppe der PDS im 13. Deutschen Bundestag an und leitete Anfang 1995 eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe für Aufgaben anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus und des Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa

Nach der Konstituierung des 13. Deutschen Bundestages am 10. November 1994 richtete sich mit dem Jahreswechsel der Blick auf ein international bevorstehendes, herausragendes Jubiläum, den 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa. Mit Jahresbeginn nahm eine Arbeitsgruppe für die Initiativen der PDS im Bundestag und ihrer Abgeordneten die Arbeit auf. Hauptsächliche Vorhaben waren ein internationales Treffen mit Überlebenden und WiderstandskämpferInnen, eine Broschüre und ein Gesetzentwurf zum Gedenken an die Opfer der faschistischen Diktatur.

Zum zeitgeschichtlichen Kontext gehörte, dass es ein halbes Jahrhundert nach 1945 weder einen Gedenktag für Millionen Opfer des Faschismus noch eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes für entsprechende Orte und Anlässe gab. Weit über vierzig Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik hatten wechselnde Regierungskoalitionen und Mehrheiten des Bundestages keinen Anlass gesehen, solchen elementaren historisch-politischen und moralischen Verpflichtungen nachzukommen. Ein Vergleich verrät Wesentliches über Herkunft, Grundlagen und Selbstverständnis des westdeutschen Staates: Der „Feiertag“ 17. Juni war trotz parlamentarischer Sommerpause 1953 binnen weniger Wochen vereinbart und beschlossen worden. Die berüchtigte Mischung von Antikommunismus und Nationalismus sollte die durch die Restauration bedingte geistige Krise überwinden helfen und zu massenwirksamer Sinngebung beitragen. Der 1950 kreierte „Nationale Gedenktag“ 7. September – Tag des Zusammentritts des ersten Bundestages 1949 – war mangels Widerhall in der Bevölkerung bereits verblichen.

Neue Erfordernisse nach 1990

Seit der staats- und völkerrechtlich gültigen Eingliederung der DDR und Westberlins in die BRD 1990 sowie mit deren nunmehr größerem Gewicht und gewachsener Handlungsfähigkeit in der internationalen Arena, waren die Bedürfnisse nach historisch-politischer Identitätsfindung und deren Ausdrucksformen dringlicher geworden. Die Einweihung der „Neuen Wache“ in Berlin, Unter den Linden, am 14. November 1993 war eine auffällige Äußerung dieses Bestrebens. Die Inschrift „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ sowie die Texte der zwei Granittafeln im Eingangsbereich verrieten das zwiespältige Bemühen, weiterhin den Verbrecherstaat von 1933 bis 1945 sowie die Dimensionen seiner Schuld nicht erkennbar zu benennen. Kurz zuvor, am 9. November 1993, erinnerte der Bundestag in einer Sitzung an die Opfer der Reichspogromnacht am 9. November 1938.

Der Bundestag gedachte am 26. Januar 1995 mit einer Ansprache seiner Präsidentin, Rita Süssmuth, der Opfer von Auschwitz sowie weiterer KZ und Vernichtungslager. Am 28. April fand in Bonn ein Gedenken von Bundestag und Bundesrat an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft statt. Hauptredner war Wladyslaw Bartoszewski, Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen. Die Gedenkveranstaltung mit Repräsentanten der Siegermächte im Schauspielhaus Berlin am 8. Mai verdeutlichte, dass sich die Bundesrepublik in ihrer Gedenk- und Erinnerungspolitik westeuropäischen und weltweiten Mindesterwartungen nicht mehr entziehen konnte. Nach der Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog ergriffen der Präsident Frankreichs, FranÇois Mitterrand, der Vizepräsident der USA, Al Gore, der Premierminister Großbritanniens, John Major, sowie der Ministerpräsident der Russischen Föderation, Viktor S. Tschernomyrdin, das Wort.

Initiative der PDS für Gedenktag

Die Gruppe der PDS/Linke Liste hatte am 29. September 1993 im 12. Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf über „den Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland“ eingereicht. Es wurde dafür der 9. November vorgeschlagen. Er besäße Symbolcharakter und solle zum offiziellen Gedenktag erklärt werden. (Drucksache 12/5781) Es kam nicht mehr zu einer Plenarberatung des Antrags und er verfiel mit dem Ende der Wahlperiode.

Die geschichtspolitisch wichtigste Initiative der Gruppe der PDS erfolgte im 13. Deutschen Bundestag mit dem Gesetzentwurf vom 15. März 1995 „über den Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland“. Er enthielt den Vorschlag: „Der 27. Januar wird zu einem gesetzlichen Gedenktag erklärt.“ (Drucksache 13/810) Das war noch zum 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus der einzige parlamentarische Antrag für einen solchen längst überfälligen Gedenktag in der Bundesrepublik.

Aus den Fraktionen kam die Anfrage, ob wir auf der Plenardebatte zum Antrag bestehen, falls zugesichert wird, dass demnächst über einen solchen Schritt interfraktionell beraten und beschlossen werde. Der Hintergrund war offensichtlich: Angesichts des internationalen Ranges dieses Jubiläums sollte der wachen Öffentlichkeit des In- und Auslandes keine Ablehnung vorgeführt werden. Zumindest die damalige Regierungskoalition (CDU/CSU und FDP) – jedoch wahrscheinlich auch SPD – waren unabhängig vom Inhalt weder bereit noch fähig, einem Antrag der PDS zuzustimmen. Andererseits wollten sie vor diesem weltpolitischen Gedenkereignis vermeiden, im Parlament eine solche Initiative abzulehnen, ohne eigene angemessene Vorschläge einzubringen.

Es kam zu einem interfraktionellen Kompromiss: Die PDS-Gruppe verzichtete auf Plenardebatte und Beschlussfassung, da zugesagt wurde, unverzüglich in eine parteienübergreifende Verständigung über Schritte zu einem solchen Gedenktag der Bundesrepublik einzutreten. Längst lagen Forderungen des Zentralrats der Juden, der VVN-BdA e. V. sowie anderer Organisationen und Persönlichkeiten für einen solchen Gedenktag vor. Schließlich kam es zu einem Konsens und Bundespräsident Roman Herzog (CDU) dekretierte Anfang Januar 1996 den 27. Januar – den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee – als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Wenig später, am 19. Januar 1996, wurde dieser Tag in Bonn mit einer Rede von ihm erstmalig repräsentativ begangen. Bei Erörterungen über jenen Schritt in der bundesdeutschen Gedenkpolitik bleibt die Initiative der PDS von 1995 seither meist unerwähnt. Gelegentlich wird dem damaligen Bundespräsidenten fälschlicherweise die maßgebliche Rolle zugeschrieben. Der CDU-Politiker hatte jedoch lediglich von Amts wegen dem Ergebnis der Meinungsbildung der Parteien auf dem verfassungsmäßig gebotenen Weg Gesetzeskraft verliehen.

Anfang Juni 1995 hatte unsere Gruppe ein Schreiben von Henri Alleg aus Frankreich erreicht. Der seit 1939 in der Kolonie Algerien lebende, französisch-algerische kommunistische Journalist war 1958 durch sein Buch „La Question“, deutsch „Die Folter“, international bekannt geworden. Es war die schonungslose Schilderung der erlebten sadistischen Quälereien durch französische Militärs in Algier, nachdem er 1957 im antikolonialen Befreiungskrieg verhaftet worden war. Er überlebte Folter und Haft nach der Flucht 1961. Alleg beglückwünschte uns zu unserem Antrag: „J‘espère vivement que le Bundestag adoptera vos propositions.“ Seine Hoffnung, dass der Bundestag unseren Vorschlag annehme, erfüllte sich insofern, als vereint mit gleichgerichteten Bemühungen anderer Kräfte das Anliegen ab Januar 1996 verwirklicht wurde.

Für Würdigung des 8. Mai

Im folgenden Jahr reichte die Gruppe der PDS einen Gesetzentwurf „über den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus“, also für einen Gedenktag 8. Mai, ein. (Drucksache 13/7287) In der ersten Lesung am 24. April 1997 äußerte ich bei der Begründung des Antrags u. a.: „Der eigentliche Beweis, dass der Bruch und das Neubeginnen nach 1945 radikal genug waren, ist von der größer gewordenen Bundesrepublik mit ihrer gewachsenen Verantwortung und mit ihren neuen Handlungsspielräumen erst noch zu erbringen.“ (Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, 172. Sitzung, S. 15574) Im Lichte seitheriger Erfahrungen erweist sich die darin erkennbare Skepsis bezüglich der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik als begründet. In der damaligen Debatte hatte Erika Steinbach – seit 2017 Sympathisantin der AfD – die Ablehnung seitens der Unionsparteien grobschlächtig zu rechtfertigen versucht. Die DDR sei nahtlos eine zweite Diktatur, „wiederum mit KZs“ wie Buchenwald. Zwischenruf laut Protokoll: „(Dr. Uwe-Jens Heuer: Das ist eine Unverschämtheit!)“; für Millionen Deutsche wären Kriegsgefangenschaft, Flucht und Vertreibung gefolgt sowie das „Vaterland“ geteilt und in Schutt und Asche. Erlöst „von allen Diktaturen“ sei Ostdeutschland erst mit dem Fall der Mauer 1989. Unser Antrag wurde an den Innenausschuss verwiesen. Er empfahl die Ablehnung, die von der Mehrheit beschlossen wurde.

Namens der Gruppe der PDS gab ich am 7. Mai 1998 eine Erklärung gegen diese Beschlussempfehlung zu Protokoll. (Ebenda, 235. Sitzung, S. 21643) Dem 8. Mai gebühre „der ihm zukommende Platz in der deutschen und europäischen Gedenkkultur, die vom bewussten und radikalen Bruch mit allem, was zu Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg führte, ausgeht und sich dieses Standpunkts immer wieder zu vergewissern bestrebt ist.“ Dieses Gedenken erübrige sich nicht durch den Gedenktag 27. Januar: „Vielmehr ergänzt er diesen mit der besonderen Würdigung der Leistungen der Antihitlerkoalition und aller Ströme des weltweiten antifaschistischen Widerstands- und Befreiungskampfes. Es ist damit auch ein wirklich internationaler Gedenktag, der im europäischen Einigungsprozess und einem nicht auf Kapitalverwertung reduzierten Globalismus seinen selbstverständlichen Platz haben sollte.“

Die Fraktionen der Partei „Die Linke“ brachten im Bundestag sowie – gemeinsam mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen – im Thüringer Landtag inzwischen wiederum Anträge zur Einführung eines gesetzlichen Gedenktages „8. Mai“ ein. Während sie im Bundestag routinehaft abgelehnt wurden, folgte Thüringen 2015 dem Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg und erklärte den 8. Mai zu einem Gedenktag des Landes. Allerdings bedarf es dazu kritischer Anmerkungen. Der Begründung im Antragstext fehlt eine Würdigung der Leistungen und Opfer der Antihitlerkoalition sowie des europaweiten antifaschistischen Widerstandes einschließlich der Partisanenbewegungen. Darüber hinaus wäre es angesichts der erheblichen Verzerrungen in der Geschichts- und Gedenkpolitik dieses Landes unabdingbar gewesen, die seit Beginn der dreißiger Jahre aus der Arbeiterbewegung kommenden Widerstandskräfte als früheste, breiteste und opferreichste Hauptkraft des deutschen Widerstands zu benennen.

Schließlich wird in jenem Text bemerkt, dass des 8. Mai „in Ost- und Westdeutschland sehr verschieden gedacht“ wurde. Wie wahr! Den Aussagen zufolge gab es jedoch anscheinend nach 1949 jahrzehntelang in der BRD keine verantwortlichen politischen Kräfte, keine Politiker und Parteien, nach deren Rolle in der Geschichts- und Gedenkpolitik zu fragen und die doch zumindest zu erwähnen wären. Die Kehrseite war und ist die feindselige Grundhaltung zum Antifaschismus, die bloß zeitgemäß bedingte Modifikationen seit 1949/50 erfuhr und bis heute zu beobachten ist. Unsäglich ist offene Diskriminierung des bayerischen Landesverbandes der VVN-BdA e. V. durch einen Verfassungsschutz, der von der CSU, der Nachfolgepartei der rechtsextremen Bayerischen Volkspartei (BVP), im Geiste dieses Erbes geleitet und geprägt wird. Deren Koalitionspartner in Berlin üben sich auch in diesem Fall in frag- und kritikwürdiger Zurückhaltung.

Im Gegensatz zu diesem peinlich großmütigen Wegsehen hinsichtlich geschichtspolitischer Verantwortung im Fall der alten Bundesrepublik wurde im erwähnten Antrag aus heutiger geschichtsideologischer Massenware entnommen, was die DDR mit üblichen Klischees denunziert und ihre antifaschistische Herkunft herabsetzt. Dort sei der 8. Mai „ein zentraler Strang der geschichtspolitischen Untermauerung der SED-Herrschaft – verankert im kommunistischen Widerstand und mit Bezug auf die Rolle der Sowjetunion“ gewesen. Anderer Widerstand und die Shoah hätten „wenig Erwähnung gefunden“. Woraus erklären sich die Fragwürdigkeiten in einem für sich sehr begrüßenswerten geschichtspolitischen Beschluss von Mitte-Links im Thüringer Landtag? Liegt es an Unkenntnis und Unterschätzung, an Vorurteilen und Opportunismus oder wirkt sich aus, was fast ausnahmslos und mit hohem staatlichen Aufwand seit rund einem Vierteljahrhundert weithin einseitig, selektiv und apologetisch als „Geschichte“ im öffentlichen Raum dominiert?

Wahrscheinlich wirken die angedeuteten ursächlichen Aspekte in individuell unterschiedlicher Verflechtung zusammen und treten dann geschichtspolitisch in Erscheinung. Sie unkritisch hinzunehmen und nicht um Verständigung und angemessene Positionen innerhalb der deutschen Linken und bis in die Mitte der Gesellschaft hinein zu ringen, wäre mit dem Sinn der Gedenktage 27. Januar und 8. Mai sowie unseren Bekenntnissen zum antifaschistischen Erbe und Vermächtnis und zu den daraus stets neu erwachsenden Verpflichtungen nicht vereinbar.

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"Späte Einsicht", UZ vom 2. Februar 2018



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