Der hier vorgelegte Text behandelt einen Komplex von Fragen, die ich mit Robert Steigerwald in den letzten Jahren seines Lebens, in denen uns eine enge Freundschaft verband, erörtert habe. Das hier Aufgezeichnete habe ich aus der Erinnerung geschrieben.
Angesichts der praktischen und ideologischen Macht des Imperialismus, seines programmatischen Antihumanismus und impliziten Utopieverlusts, seiner, wie es scheint, globalen Herrschaft über Handeln und Bewusstsein der Menschen, ist die Frage nach einer alternativen Gesellschaftsordnung von fundamentaler Bedeutung. Sie ist eine Schicksals-, ja, Überlebensfrage für die Zukunft der Menschheit. Rosa Luxemburgs Alternative: „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“ besitzt heute eine existentielle Dimension, da der Sozialismus die einzige ideelle und materielle Kraft ist, die imstande sein könnte, die Macht des imperialistischen Kapitals zu brechen und eine menschliche Gesellschaft zu errichten. Die Barbarei als Alternative kann das Ende der Menschheit, die Erde als zerborstenen Planeten bedeuten.
Dabei ist mit Sozialismus kein utopischer Wunschtraum gemeint, kein Schlaraffenland ewigen Glücks, sondern eine sehr reale zukünftige Gesellschaft, die auf dem Zusammenhang und der Kooperation verschiedener Zentren, kultureller Weltteile beruht, die jeweils ihre eigene Geschichte haben. Mit Sozialismus also ist die Existenz pluraler Kulturen gemeint, die, wie in Morus’ „Utopia“, im Denken Herders und Kants Friedensmanifest vorgedacht, miteinander kooperieren und ihre Differenzen auf friedlichem Weg, im Rahmen einer internationalen Rechtsordnung, regeln. Das Gemeinsame dieser polyzentrischen Welten besteht in der Ordnung des Rechts im Rahmen eines „Bunds der Völker“, das die Gleichheit aller Menschen unabhängig von Nation, Geschlecht und Rasse garantiert, in der Sicherstellung von Nahrung, Wohnung und Bildung für alle Menschen, dem Toleranzgebot in Fragen der erotischen Orientierung und Weltanschauung, dem Verbot militaristischer Ideologien, einem entschiedenen „Krieg dem Kriege“. Der Sozialismus ist deshalb nur als Kultur des Friedens vorstellbar.
Das Gemeinsame ist ein entschiedener Antikapitalismus. Der Kapitalismus basiert auf einer dreifachen Exploitation – der der Klasse, der Kolonie und des Geschlechts – und wäre nicht, wenn es diese Exploitation nicht gäbe. Der Sozialismus als Form des praktischen Humanismus widerstreitet jeder Form der Ausbeutung. Er existiert freilich, als praktischer Humanismus, in einer Vielzahl von weltanschaulichen Formen, wie auch in einer Vielzahl von Begründungen. Der Marxismus, als dialektischer Materialismus, ist eine dieser Formen, und zwar, in der Auffassung des hier Schreibenden, die komplexeste und differenzierteste. Auf allen Ebenen war Robert Steigerwald als Lehrer aktiv.
Die Basisebene des Marxismus ist die Kritik der politischen Ökonomie im Marxschen Sinn und die angeschlossenen Felder der sozialen und politischen Theorie.
Eine zweite Ebene ist die Zivilgesellschaft, deren Theorie Antonio Gramsci ausgearbeitet hat. Sie umfasst die konkrete Totalität der sozialen Glieder einer gegebenen Gesellschaft mit dem Zentrum der Praxen des Alltags und seiner Institutionen, zu denen Rechtsinstitutionen, Schulen und Universitäten ebenso gehören wie die Kirche, Parteien, die Presse, Kino, Fernsehen und (heute) angeschlossene digitale Apparate, Vereine, Sport. Die Zivilgesellschaft ist „zwischen“ ökonomischer Basis und dem politischen Überbau (Staat und Recht) gelagert.
Eine dritte Ebene bilden Rechtsgesellschaft und Staat im Sinne des juristischen und politischen Überbaus, der die Produktionsverhältnisse der Basisebene regelt und die Zivilgesellschaft als organische Totalität fundiert. Sie fungieren als Ordnungsprinzipien des gesellschaftlichen Lebens im internen und externen Sinn. So regeln sie das Verhältnis der diversen Teile der Gesellschaft zueinander sowie das Verhältnis der Individuen und Gruppen innerhalb der einzelnen Teile der Gesellschaft – in der Klassengesellschaft das Verhältnis der Klassen zueinander. In der imperialistischen Gesellschaft fungieren sie als Organe der Repression der widerständigen Intellektuellen wie der oppositionellen Teile des Volks.
Eine vierte Ebene ist der Bereich der weltanschaulichen Bewusstseinsbildung, die ihrerseits aus verschiedenen Schichten besteht. Die erste dieser Schichten baut auf der politisch-ökonomischen und sozialen Theorie auf und ist eng mit der oben genannten Basisebene des Marxismus verbunden. Hinzu kommt der gesamte Bereich naturwissenschaftlicher Theorie, dessen Defizit im Rahmen materialistisch-dialektischen Denkens vielfach festgestellt, doch bislang keineswegs in ausreichender Form behoben wurde. Der Mangel geht auf die Gründerväter des Marxismus zurück. Marx hatte weder die Zeit noch die Kenntnisse, sich zu naturwissenschaftlichen Problemen anders als sporadisch zu äußern, Engels besaß die Kenntnisse, doch nicht die Zeit für eine systematische Ausarbeitung. So blieb die Dialektik der Natur, mit der Ausnahme weniger, oft fragmentarischer Teile, ungeschrieben, der Anti-Dühring auf Widerlegungen beschränkt, die zwar die Genialität ihres Verfassers bezeugen, doch kein Ersatz für das ungeschriebene Buch sind.
Es ist Robert Steigerwalds Verdienst, Bemühungen unternommen zu haben, die hier vorliegenden Lücken im Rahmen seiner Kenntnisse (die keine Kenntnisse eines Naturwissenschaftlers waren) auszufüllen. Er hatte den Mut, der ihm hoch anzurechnen ist, in einem ihm unvertrauten Bereich tätig zu werden – wie er den Mut hatte, noch im hohen Alter seine Familienchronik, „Das Haus im Sandweg“, einer ihm unvertrauten Öffentlichkeit zu übergeben – ein zweifacher Mut, den man manchem Jüngeren wünscht.
Für den Bereich der Philosophie als Wissenschaft sieht der Sachverhalt günstiger aus – dank des Wirkens von Hans Heinz Holz als des vielleicht letzten Vertreters einer klassischen Philosophie in Deutschland, der über die Philosophie der Kunst mit gleicher Kompetenz schreiben konnte wie über das Verhältnis der chinesischen Philosophie zu Lenins „Konpekten zu Hegels Logik“. Eine gleichermaßen wesentliche Bedeutung für die marxistische Bewusstseinsbildung wie die Philosophie hat die Kunst – ein Tatbestand, der bislang kaum Anerkennung fand. Umso wichtiger ist es, sie in zukünftigen Ausarbeitungen des Marxismus zu berücksichtigen. Damit treten auch Interpretation und Kritik in den Bereich marxistischer Bewusstseinsbildung ein: das Wissen des Begriffs und das Wissen der Künste.
Eine fünfte Ebene betrifft das Verhältnis von Marxismus und Feminismus, in der Vergangenheit oft – und zu Unrecht – als Stiefkind des Marxismus behandelt. Die Grundfrage hier ist eine zugleich theoretische und praktische Frage.
Die sechste Ebene betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis. Der Marxismus versteht sich als Theorie, die die Welt auf der Grundlage ihrer Interpretation verändert – mit dem Ziel, alle Verhältnisse der Knechtschaft von Menschen aufzuheben. Sein Ziel ist „eine bewohnbare Erde“ (Bertolt Brecht). Hier befindet sich dann auch der Einsatzpunkt für die noch nicht geschriebene marxistische Ethik.
Eine siebente Ebene betrifft die Wirklichkeit als Ort des Handelns. Ist Wirklichkeit „die Gesamtheit der Tatsachen“ (Ludwig Wittgenstein), so sind die Tatsachen, im dialektischen Verständnis, keine statischen Sachverhalte, sondern Teil eines Prozesszusammenhangs, also werdend-Gewordene. Das betrifft die Natur wie die menschliche Geschichte. Wirklichkeit ist geschichtlich, sie ist Prozess, und das heißt immer auch: sie geht schwanger mit Möglichkeit – Möglichkeit in einem pluralen Sinn. So bewegen sich in der gegenwärtigen Welt die Möglichkeiten politisch-sozialen Handelns in der Alternative von Barbarei und Sozialismus – Selbstvernichtung und Errichtung einer bewohnbaren Welt. Damit gehört auch die Frage nach Utopie als Denken des geschichtlich Möglichen in den zentralen Bereich des Marxismus als Weltanschauungsform. Im Unterschied zum utopischen Sozialismus der Vergangenheit ist die Utopie des marxistischen Sozialismus historisch konkret. Sie bezieht sich auf im Wirklichen schlummernde Möglichkeit – auf etwas, das durch menschliches Handeln errichtet werden kann. In diesem Sinn ist Utopie kein Gegensatz zur Wissenschaft (wie noch Engels meinte), sondern selbst Teil wissenschaftlichen Denkens.
Mit Willi Gerns zusammen beackerte Robert als Parteitheoretiker auch die letzten beiden Ebenen. Sie gaben der DKP Orientierung, wie sich aus der theoretischen Verarbeitung der Wirklichkeit eine Handlungsanleitung zur Überwindung der knechtenden Realität finden lässt. Diese Art des Denkens ist gerade für die heutige Zeit hilfreich, in der der Sozialismus im kriegstaumelnden Deutschland äußerst utopisch erscheint.
Ein Leben für die Revolution
Robert Steigerwald wurde am 24. März 1925 in Frankfurt am Main geboren und wuchs in einer kommunistischen Arbeiterfamilie auf. Nach dem Abitur wurde er zur faschistischen Wehrmacht eingezogen und zum Piloten ausgebildet. Nach kurzem Kriegseinsatz ging er freiwillig in US-amerikanische Gefangenschaft, aus der er im Mai 1945 floh. Ein sozialdemokratischer Onkel erklärte ihm, was der Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten sei: Beide hätten dasselbe Ziel, die Sozialdemokraten wollten es auf demokratischem, die Kommunisten auf diktatorischem Weg erreichen. Steigerwald trat in die SPD ein, gründete deren Jugendverband „Die Falken“ mit und wurde in den Vorstand der „Falken“ für die Westzonen berufen.
Schnell geriet er in Widerspruch zur Politik der SPD – nicht nur durch das Studium des Marxismus. 1947 suchte er das Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher. Er fragte ihn, auf welcher Seite die SPD stehen würde, wenn es – wie damals zu befürchten war – zum Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion kommen würde. Schumacher antwortete: auf der Seite des von Labour regierten Britannien. Steigerwald verließ die SPD und trat 1948 in die KPD ein. Der „Hessische Rundfunk“, bei dem Steigerwald als Jugendredakteur tätig war, entließ ihn daraufhin.
Steigerwald hatte bereits während seiner Arbeit beim Radio Geschichte und Philosophie studiert. Die Jahre 1949 und 1950 verbrachte er an der Parteihochschule „Karl Marx“ der SED in Kleinmachnow, anschließend lehrte er dort ein halbes Jahr lang Philosophie.
1951 kehrte er in die Bundesrepublik zurück und beteiligte sich am Widerstand gegen die Remilitarisierung. Dafür wurde er 1953 zum ersten Mal verhaftet. Insgesamt saß Steigerwald wegen seiner politischen Tätigkeit fünf Jahre in Straf- und Untersuchungshaft.
Trotz der Verfolgungen gehörte er der Arbeitsgruppe des Parteivorstands der KPD an, welche die juristische Verteidigung gegen das 1951 beantragte Verbot der KPD koordinierte.
Dass seine Partei 1956 verboten wurde, hielt ihn nicht davon ab, nach der Haftentlassung die Arbeit wieder aufzunehmen. Er leitete die Abteilung Theorie und marxistische Bildung beim Vorstand der illegalen Partei. 1963 beteiligte er sich daran, die Zeitschrift „Marxistische Blätter“ zu gründen. Später wurde er ihr Chefredakteur und blieb bis zu seinem Tod Mitherausgeber.
Für die wissenschaftliche Arbeit fand er in der DDR die besseren Bedingungen vor. 1968 wurde er in der DDR promoviert. Steigerwald forschte auf dem Gebiet der marxistischen Philosophie, gleichzeitig arbeitete er dafür, den Marxismus zu verbreiten und besonders für Jugendliche aus der Arbeiterklasse verständlich zu machen. In den späten 1960er Jahren wurde er Vorsitzender des Zusammenschlusses der Marxistischen Arbeiterbildungsvereine (MAB).
Er war lange Vorsitzender, zuletzt Ehrenvorsitzender der Marx-Engels-Stiftung. Seine Einführung in die marxistische Philosophie, die unter verschiedenen Titeln, in mehreren Auflagen und Übersetzungen erschien, bietet einen anschaulichen Zugang zu Fragen der marxistischen Dialektik, Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie.
1968, als sich das Klima in der Bundesrepublik veränderte, nutzten die Kommunisten die Möglichkeit, um trotz des KPD-Verbots wieder eine legale kommunistische Partei zu bilden. Sie konstituierten sich neu als DKP. Steigerwald war daran beteiligt, von Anfang der 1970er Jahre bis 1990 war er Mitglied des Parteivorstands der DKP und hat deren Programmatik entscheidend mitgeprägt.
Die Niederlage von 1989 brachte ihn nicht dazu, den Marxismus aufzugeben – aber dazu, die Grundfragen der marxistischen Philosophie erneut zu stellen. Solange es seine Gesundheit erlaubte, nahm er an der Arbeit der DKP teil, hielt Vorträge und forschte.
Am 30. Juni 2016 starb er 91-jährig in Eschborn.
Redaktionell leicht bearbeiteter Auszug aus dem „RotFuchs“, September 2016