Wie Volkszählungen sozialen Fortschritt bringen können

Sozialer Schub in China

China-Kolumne

Volkszählungen, bürokratische Kontroll- und Herrschaftsprozeduren? Sinnfreie Übungen für Statistiker? Können wir uns im „Westen“ überhaupt noch vorstellen, dass eine Volkszählung schon nach wenigen Monaten zu fortschrittlichen Korrekturen und Mobilisierungen der Gesellschaftspolitik eines Landes führt? So geschehen jedenfalls in China, wo gerade ein weiterer sozialer Aufbruch beginnt. Die Volkszählung 2020 (die vorangegangene war 2010) hat Spannendes hervorgebracht. Nicht nur, dass die ethnischen Minderheiten von 8 auf 9 Prozent der Bevölkerung zugelegt haben und die Zahl der Uiguren in den vergangenen zehn Jahren nochmal um etwa 16 Prozent auf knapp 12 Millionen gewachsen ist (1949: circa 4 Millionen). Solches Wachstum heißt in den westlichen „Freiheitskampf“-Medien bekanntlich „Völkermord“.

Aber auch Beunruhigendes kam zutage: Die chinesische Bevölkerung wird älter. Zwar ist sie immer noch deutlich jünger als die deutsche, aber in der Volksrepublik ist dies ein Grund, sofort und vorausschauend zu handeln. Es ist weniger eine Folge der früheren Ein-Kind-Politik, die ja schon frühzeitig korrigiert wurde und schon lange eine Zwei-Kind-Politik war. So hat man immerhin die Bevölkerungsexplosion mittelfristig einigermaßen in den Griff bekommen. Aber nun greifen umfassende Frauenberufstätigkeit und Gleichberechtigung und vor allem der neue bescheidene (und für einige hundert Millionen schon mehr als nur bescheidene) Wohlstand. Wir kennen einen gewissen „Wohlstandseffekt“ aus der kapitalistischen Erfahrung: Die Geburtenrate lässt nach. Und nun wird eine Drei-Kind-Politik praktiziert, mit Offensiven bei Kindergartenplätzen, Verbesserungen der Mutterschaftsversicherung und -betreuung, mehr Fördermaßnahmen in den Betrieben.

Auch in den Schulen wird verstärkt die Familie gefördert: Das bisher eher zu hohe Konkurrenzniveau in den chinesischen Schulen wird abgeschwächt und die Kommerzialisierung durch die (oft US-inspirierten und -finanzierten) Nachhilfekonzerne beendet. Die müssen nun gemeinnützig werden, sonst sind sie weg vom Fenster. Da sorgt man sich in den Westmedien natürlich mal wieder ums arme, geschundene Kapital. Ein neues Highlight der Jugend-, Bildungs-, Kultur- und Familienpolitik: Die Zahl der Stunden, die die Kids mit Videospielen verdödeln, wird auf drei Stunden pro Woche (für die Jüngeren) begrenzt. Die Chance für Kinder und Jugendliche, für Schulen und Lehrer, für Eltern und Familien. Und Tencent und Co. kriegen die Anweisung, das bitteschön ab sofort in die Software einzubauen. Westlichen Lehrern und Eltern stockt der Atem. An so etwas haben sie bisher nicht einmal zu denken gewagt, während auf deutschen Schulhöfen mit Prügeln und Erniedrigungen das „freie“ Squid Game nachgespielt wird. Und wieder sorgen sich die westlichen Kartellmedien um die „Freiheit“, diesmal die der Kinder, natürlich der chinesischen.

Man sieht die neue Jugend- und Familienpolitik aber auch in anderen Verhaltensbereichen: „Schaut nicht so viel TV“, „Macht mal euer Handy aus“, „Esst kein Fastfood“, „Bewegt euch mehr körperlich“, „Schmeißt keine Nahrungsmittel weg“, „Achtet Tiere“. Diese und andere Kampagnen sind in China schon länger in den Medien. Neu: Wer zu viel Essen bestellt und dann zu viel wegschmeißt, kann heutzutage bestraft werden. Wer weiß, wie sehr Chinesinnen und Chinesen ihre Gäste traditionell in großem Überfluss bewirten, weiß auch, um was für eine kulturelle Revolution es hier geht.

Auch am anderen Ende der Altersskala – da, wo man in China bisher mit 55 (Frauen) oder 60 in Rente ging – tut sich etwas: Wenn während des angelaufenen 14. Fünfjahresplans die Lebenserwartung von 77 auf 78 Jahre steigt (nun höher als die der USA), entsteht damit Raum für vieles: für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, die jetzt diskutiert wird, für flexible, den individuellen Wohlstand steigernde Systeme der Altersbeschäftigung, für eine fast hundertprozentige Erfassung in der Rentenversicherung und deren jetzt geplante stärkere Sozialisierung in Form von Einzahlungen der Erwerbstätigen und Unternehmen in Kollektivfonds statt in Privatversicherungen. (Man hört die westlichen Journalisten schon wieder aufstöhnen.) Und es wird mit „Zeitbanken“ experimentiert: Jüngere Alte helfen älteren Alten und sie organisieren sich über WeChat. Und es gibt die neuen Ideen der „Grauhaar“-Industrien: Güter und Dienstleistungen für Ältere, die mit ihrer gesicherten und guten Altersrente volkswirtschaftlich produktive Konsumenten werden. Einfache Anwendung ökonomischen Wissens, das im Westen seit vier Jahrzehnten durch neoliberalen Exorzismus eliminiert wurde.

Auf dem Weg zu einem neuen Sozialismus, den wir noch nicht genau kennen, wird also vieles möglich, das uns den Atem raubt, aber uns auch anregt und gedanklich mobilisiert. Angesichts der chinesischen Entwicklungsdynamik kommt man mit dem Kommentieren kaum noch nach.

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"Sozialer Schub in China", UZ vom 19. November 2021



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