Vor 50 Jahren fand sich in vielen Bücherregalen junger Menschen in der BRD das Rowohlt-Taschenbuch „Formen bürgerlicher Herrschaft: Liberalismus – Faschismus“. Schon damals schien es notwendig, zu einer Begriffsklärung zu kommen, war doch im Gefolge der 1968er-Bewegung nicht nur im studentischen Diskurs der Faschismusvorwurf alltäglich. Dabei richtete er sich oft gegen Personen und Gruppen, deren direkte Einbindung in die faschistische Herrschaft in Deutschland belegt war. Gleichzeitig wurden damit reaktionäre Entwicklungen, der Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten, die Erweiterung von Zugriffsrechten der Polizei – im Gegensatz zur Ankündigung „Mehr Demokratie wagen“ – oftmals als „Faschisierung des Staatsapparats“ kritisiert.
Gegen diesen inflationären Gebrauch des Faschismusbegriffs richtete sich die oben erwähnte Schrift von Reinhard Kühnl, Professor an der Marburger Philipps-Universität, der – aus der Abendroth-Schule kommend – sich für eine politische Trennschärfe und Begriffsklärung einsetzte. Als vorherrschende Form bürgerlicher Herrschaft benannte er den „Liberalismus“, der ebenso wie der Faschismus auf kapitalistischen Eigentumsverhältnissen beruht und in sich durchaus die Tendenz zur Reaktion trägt, aber dennoch auch auf bürgerlichen Freiheitsrechten und Handlungsmöglichkeiten basiert, die auch für diejenigen gesellschaftlichen Kräfte existenziell sind, die eine politische Überwindung des Kapitalismus anstreben.
Historische Definition
Als eine der möglichen Krisenlösungen der politisch und wirtschaftlich Herrschenden verstand Kühnl den faschistischen Ausweg, der in der deutschen Version des Nationalsozialismus 1933 beschritten wurde. Damit wurde – im Sinne der Herrschenden – der Faschismus als „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ aufgebaut, wie es in der immer wieder zitierten Zusammenfassung Georgi Dimitroffs auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale im Jahr 1935 heißt. So richtig diese Einschätzung für den Faschismus an der Macht in Deutschland zum Zeitpunkt des VII. Weltkongresses war, konnte sie nicht die Dimension des Rassismus und Antisemitismus erfassen, wie sie sich später in den faschistischen Vernichtungslagern manifestierte, was für unser heutiges Verständnis jedoch grundlegend ist.
Zudem ist diese Kurzdefinition unzureichend, wenn es darum geht, die verschiedenen Ausprägungen faschistischer Herrschaft in den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen zu beschreiben. Noch weniger hilfreich ist sie, wenn es darum geht, diese faschistischen Bewegungen mit ihren politischen und ideologischen Anknüpfungspunkten sowie Erscheinungsformen zu erfassen.
Verhältnis von Faschismus und Kapitalismus
Unstrittig ist, dass Faschismus in keiner seiner bisher erlebten Varianten auf die Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hinausläuft. Dass es beim Faschismus an der Macht durchaus zu Eingriffen in das Privateigentum kommen kann, insbesondere im Zuge der Kriegsvorbereitung und der Umsetzung der Expansionsziele (Kriegswirtschaft), widerspricht dieser Aussage nicht, da der faschistische Staat hier als ideeller Gesamtkapitalist die Voraussetzungen zur Realisierung der globalen Zielsetzungen organisiert. Damit zielt der Faschismus – trotz aller Propaganda, wie sie in seiner deutschen Variante im Parteinamen (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) und von den Brüdern Otto und Gregor Strasser verkündet wurde – nicht auf eine Überwindung des Kapitalismus, sondern allein auf eine politische Modifizierung der bürgerlichen Gesellschaft.
Faschismus und Neofaschismus waren und sind Kriseninterventionsinstrumente. Dies nicht nur in Situationen, in denen revolutionäre Bewegungen die politische Macht der Herrschenden gefährden, es können auch die Interessen äußerer Mächte sein, für deren innen- und außenpolitische Umsetzung eine antidemokratische und nationalistische Herrschaftsform benötigt wird. Mit Blick auf Lateinamerika haben wir Beispiele dafür, bei denen zumeist mit massiver Unterstützung der USA faschistische Herrschaftsformen etabliert wurden zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Einflusszonen der US-Politik und der US-Konzerne.
Zur Etablierung einer längerfristig wirksamen reaktionären Machtkonstellation war und ist es notwendig, nicht nur die Machtinstrumente des Staatsapparats (Militär, Polizei und Geheimdienst) einsetzen zu können. Darüber hinaus braucht es eine gesellschaftliche Unterfütterung. Die Herrschenden brauchen Strukturen und Kräfte, die bereitstehen und in der Lage sind, zum gegebenen Zeitpunkt ihren politischen Einfluss zur Stabilisierung der Herrschaft geltend zu machen. Diese Funktion kommt faschistischen Parteien und Massenbewegungen zu. Sie setzen diese Aufgabe unter den jeweiligen nationalen Bedingungen in unterschiedlicher Form um. Begann etwa der Aufschwung der faschistischen Bewegung in Italien im „Biennio Nero“ als Schlägertruppe zur Durchsetzung der ökonomischen Interessen der Unternehmer in Norditalien und der Grundbesitzer im Süden, so entwickelte sich der spanische Franquismus nach dem Putsch gegen die Republik als politische Bündelung aller reaktionären Kräfte von der Kirche bis zu den Kapitalisten und Großgrundbesitzern.
Die Stabilisierung kapitalistischer Herrschaft geht, insbesondere in Krisenzeiten, zumeist einher mit der Einschränkung oder sogar Aufhebung demokratischer Rechte und Freiheiten für die arbeitenden Menschen. Wenn es um Profitinteressen geht, müssen Gewerkschaften und demokratische Massenbewegungen zurückgedrängt werden. Dabei ist jedoch der Umkehrschluss falsch, alle Einschränkungen der bürgerlichen Freiheitsrechte als „faschistisch“ zu bezeichnen. In den 1970er und 1980er Jahren gab es politische Gruppen, die bei jedem Abbau von Freiheitsrechten von einer „Faschisierung“ sprachen. Eine fatale Fehleinschätzung, die sich auch in der Programmatik der KPD 1931/32 zeigte.
Es kommt darauf an zu erkennen, welche Räume des politischen Handelns gegen Demokratieabbau noch möglich sind und diese dann auch zu nutzen. Der Faschismus an der Macht hat 1933 in Deutschland mit den Instrumenten der „Schutzhaft“, der SA und SS als Hilfspolizei, mit Sondergesetzen, die rassistische und politische Ausgrenzungen ermöglichten, sowie der staatlichen Auflösung von Organisationen in aller Brutalität deutlich gemacht, wo der Unterschied zwischen Einschränkung demokratischer Freiheiten und ihrer Aufhebung liegt.
Funktionen des Faschismus
Eine wichtige Funktion des Faschismus ist seine Bindekraft für ideologische, politische und soziale Unzufriedenheit. Sie kann so nach rechts kanalisiert werden. Indem durch die Propagierung einfacher – rassistischer und nationalistischer – „Lösungen“ für die gesellschaftlich verursachten Probleme der Menschen, etwa bei der Abwälzung von Krisenlasten auf den Rücken der arbeitenden Bevölkerung, die realen Ursachen dieser Probleme verdrängt werden, wird verhindert, dass Widerstand dagegen wirksam wird.
Gefordert ist dagegen eine demokratische und soziale Bewegung, die gesellschaftliche Alternativen aufzeigt und „einfache Lösungen“ der Faschisten als falsch entlarvt. Dabei verbietet sich eine Offenheit gegenüber Anhängern der extremen Rechten oder gar ihrer Repräsentanten etwa bei Sozialprotesten. Die politischen Aussagen müssen so klar sein, dass sich ein Björn Höcke, wie in Gera geschehen, nicht in Szene setzen kann. Eine Akzeptanz der extremen Rechten in solchen Protesten schafft Raum für faschistische Propaganda, für rassistische oder nationalistische „Lösungen“. Überzeugen müssen wir jedoch die Mitläufer von den gemeinsamen Interessen der Werktätigen und der Funktion der Faschisten im Interesse der Herrschenden.
Faschismus ist eine Bewegung, die gleichzeitig nationalistische und reaktionäre Kräfte in die Systemstabilisierung integriert. Ausgrenzungen (Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, rassistische Ausgrenzung und entsprechende Feindbilder) haben die innenpolitische Funktion der Formierung der Gesellschaft im Sinne einer „Volksgemeinschaft“, die rassistisch definiert wird, und eine außenpolitische Funktion, indem Herrschaftsansprüche gegenüber Nachbarstaaten oder in anderen Teilen der Welt aus einer „Höherwertigkeit“ der eigenen „Rasse“ abgeleitet werden.
Reaktionärer Gebrauch des Faschismusbegriffs
In der politischen Debatte kann nicht übersehen werden, dass der Faschismusvorwurf Eingang in die mediale Propaganda gefunden hat. Der Begriff wird dabei instrumentalisiert, um den außenpolitischen Gegner zu stigmatisieren. So wird Russland mit dem Begriff belegt, nicht jedoch die Türkei. Es ist natürlich vollkommen unstrittig, dass es in Russland faschistische Organisationen und Kräfte gibt. Vergleichbar mit den westeuropäischen Staaten wurden deren Agieren und ihre Aufmärsche lange Zeit von den Regierenden nicht nur toleriert, sondern zeitweilig genutzt, um innenpolitische Probleme im Sinne einer Krisenlösungsstrategie zu kanalisieren. Dass die russische Innenpolitik nicht von Liberalität geprägt ist, ist ebenfalls unstrittig. Wenn man jedoch bedenkt, dass viele der kritisierten Gesetze und Maßnahmen der russischen Regierung spiegelbildlich auch in westlichen Staaten – besonders in den USA – existieren, dann wird deutlich, welche denunziatorische Funktion der Faschismusvorwurf gegenüber Russland hat – natürlich auch als ideologische Retourkutsche zur russischen Begründung für den Ukraine-Krieg.
Niemand würde behaupten wollen, dass Deutschland aufgrund der flächendeckenden Präsenz der AfD im Bundestag und in den Länderparlamenten oder der gewalttätigen Aufmärsche faschistischer Gruppen und Kräfte als „faschistisch“ zu bezeichnen sei. Aber bezogen auf Russland wird es gemacht. Das erinnert unter anderen Vorzeichen an Debatten in der westdeutschen Linken während des Vietnamkriegs, die damals nicht nur den amerikanischen Kriegseinsatz bekämpfte, sondern in vielfältiger Form die USA als „faschistisch“ entlarvte, weil dort rassistische und expansionistische Kräfte die Politik bestimmten. Wir wissen heute, dass diese Analysen fehlerhaft und sektiererisch waren.
Auffällig ist der funktionale Einsatz des Faschismusbegriffs in der Innenpolitik. Während Politik und Polizei bei den extrem rechten Aufmärschen von PEGIDA lange nur „besorgte Bürger“ sehen wollten und stattdessen gegen die antifaschistischen Kräfte vorgingen, die sich solchen Aktionen entgegenstellten, scheint im Rahmen der sozialen Proteste gegen die Abwälzung der Kriegs- und Krisenlasten auf den Rücken der einfachen Bevölkerung der Faschismusbegriff Konjunktur zu bekommen. Tatsächlich sind Vertreter der AfD, der „Freien Sachsen“ und anderer extrem rechter Gruppen und Strukturen teilweise Organisatoren dieser Protestmärsche, was von vielen Teilnehmenden unkritisch akzeptiert wird. Die Kritik der Mainstream-Medien richtet sich jedoch nicht gegen die fehlende Abgrenzung, sondern gegen den sozialen Protest selbst. Eigentlich müsste doch die politische Schwäche der Linken, der Gewerkschaften und der Sozialverbände bei der Mobilisierung zu Aktionen gegen die Abwälzung der Krisenlasten kritisiert werden. In der medialen Berichterstattung werden stattdessen die Proteste als solche als „faschistisch“ denunziert, als seien alle diejenigen, die sich gegen gestiegene Energiepreise und Inflation als Folge der antirussischen Sanktionspolitik wehren, „Putin-Freunde“ und „Faschisten“. Dazu passt, dass die mediale „Putin-Hitler“-Gleichsetzung in der letzten Zeit wieder Konjunktur hat. Auf diese Weise wird versucht, mit dem Faschismusvorwurf soziale Proteste ideologisch zu erledigen.
Auch Staatsorgane wie der sogenannte Verfassungsschutz arbeiten mit dem Faschismusbegriff. Er dient ihnen nicht als Begründung für ein konsequentes Vorgehen gegen die extreme Rechte, sondern als Denunziation von Antifaschisten. Da Faschismus als Bestandteil des Kapitalismus verstanden werde, würde damit der Kampf gegen die bürgerliche Demokratie legitimiert, richte sich doch antifaschistisches Handeln per se gegen die kapitalistische Gesellschaft, ergo gegen die bürgerliche Demokratie. Mit dieser absurden Hilfskonstruktion kommt der bayerische Verfassungsschutz zu der Behauptung, der „Schwur von Buchenwald“ mit seinen Aussagen „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“ und „Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit“ sei implizit gegen die bürgerliche Demokratie gerichtet. In dieser kruden Logik wäre die Hessische Landesverfassung, in der deutlich politische Konsequenzen im Sinne der Vernichtung der Wurzeln des Nazismus formuliert wurden, gegen die bürgerliche Demokratie gerichtet.
Es wird also deutlich, wie wichtig es ist, sich immer wieder des Faschismusbegriffs inhaltlich neu zu vergewissern. Nicht nur in der aktuellen Auseinandersetzung mit allen Spielarten des Neofaschismus, sondern auch hinsichtlich der historischen Konsequenzen, die aus der Errichtung der faschistischen Herrschaft 1933 und dem darauffolgenden zwölfjährigen Terror gezogen werden müssen.