Dieser Beitrag beruht auf dem Referat, das Stephan Müller auf der 3-Parteien-Konferenz der Kommunistischen Partei Luxemburgs, der Neuen Kommunistischen Partei der Niederlande und der DKP am 11. und 12. Juni 2022 in Remich, Luxemburg, gehalten hat (siehe UZ vom 17. Juli). Die Erarbeitung des Vortrags wurde unterstützt von der AG Krise der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ).
Die Krise des Kapitalismus ist seit 1945 durch ein Dilemma in der Strategie der USA geprägt:
Einerseits soll das kapitalistische Weltsystem erhalten werden. Der Sozialismus an der Macht, damals die Sowjetunion, muss weg, genauso wie alle Ansätze anderer Länder, aus dem System auszubrechen. Andererseits will die US-Finanzoligarchie die Führung im kapitalistischen Weltsystem nicht wieder abgeben. Die USA müssen also die Widersprüche unter den Imperialisten unter Kontrolle halten. Dazu dient seitdem vor allem die NATO, deren Struktur von dem Dilemma der US-Strategie bestimmt ist.
Die zwei Mal geschlagene deutsche Finanzoligarchie nutzte dieses Dilemma für ihr Überleben und ihren Wiederaufstieg. Sie bot sich den USA gegen eine Volksfront in Deutschland an und als Militärbasis gegen die UdSSR. Dafür und für die vorläufige Aufgabe des Ostteils Deutschlands erhielt sie die Remilitarisierung und eine teilweise Souveränität, allerdings unter Aufsicht der NATO und der Montanunion.
Die USA sicherten ihre ökonomische und politische Dominanz über entscheidende Technologien ab und über das Währungssystem, zunächst durch das Abkommen von Bretton Woods.
Durch permanente Interventionen versuchten die USA das „Roll-Back“ des Sozialismus. Das gelang zunächst nicht in den Teilen der Welt, die sie nicht militärisch kontrollierten, und auch nicht in China, Kuba und Indochina, und in Korea nur teilweise.
Wegen der enormen Militärausgaben der USA hielt Bretton Woods nur bis in die 1970er Jahre, aber die USA bleiben dominant im Weltfinanzsystem, auf dem Ölmarkt und in der Atomtechnologie, in Luft- und Raumfahrt sowie besonders in der Elektronik.
Konterrevolution in Europa
Der Widerspruch Frankreichs gegen die US-Hegemonie erlaubte es der BRD, die Montanunion zur EU auszubauen und zusammen mit Frankreich zu dominieren. Die deutsche Finanz-oligarchie erhofft sich, so bei der Neuaufteilung der Weltmärkte wieder als Großmacht mitreden zu können.
Eine neue Phase begann mit den Konterrevolutionen in der Sowjetunion und den europäischen sozialistischen Ländern. Eine Neuaufteilung der Welt, zunächst ohne Weltkrieg, war möglich geworden. Zwischen den USA und den anderen imperialistischen Mächten, die gemeinsam auf das „Roll Back“ hingearbeitet hatten, begann nun der Kampf um die Märkte. Zur Öffnung der Märkte Osteuropas und Zentralasiens kam die Reform- und Öffnungspolitik der VR China. Zur Enttäuschung des Imperialismus ist aber die VR China nicht bereit, die Kontrolle über die Marktöffnung aus der Hand zu geben und in Russland erlangte der Staat unter Putin die Kontrolle zurück. Wegen der erfolgreichen Entwicklung der VR in Richtung Sozialismus konzentriert sich die Aggressivität der USA gegen China.
Die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte auf Grundlage von Kybernetik und Mikroelektronik hat das Finanzkapital weiter enorm konzentriert und verlangt ganz offensichtlich nach Vergesellschaftung, verlangt Sozialismus. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wird zur sichtbaren Fessel der Weiterentwicklung. Die Unfähigkeit selbst der reichen imperialistischen Länder, die Versorgung der breiten Massen der eigenen Bevölkerung zu sichern, wird nun überdeutlich im aktuellen Kapitalismus. Systemnotwendige Infrastruktur wie Wohnung, Bildung, Transport oder Gesundheitswesen wird im Kampf der Monopole um Dominanz vernachlässigt, während Rüstungsausgaben weiter steigen.
Innerimperialistische Widersprüche
Der deutsche und der französische Imperialismus konkurrieren um die Vorherrschaft in der EU, kooperieren aber, um die EU von den USA unabhängig zu machen. Die USA wollen das verhindern, brauchen die EU aber als Verbündete gegen China. Vor allem die deutschen Monopole sind jedoch auf die Expansion auf dem Markt in China angewiesen.
In dieser Situation kommt Russland eine Schlüsselrolle zu. Nachdem in der Sowjetunion die Kommunistische Partei die Kontrolle über die Staatsmacht und die Öffnung der Märkte verloren hatte, begann, wie erwähnt, der Kampf der Kapitalisten um die Beute. Einheimische Kräfte kämpften aus staatsnahen Machtpositionen in wechselnden Allianzen mit anderen einheimischen, aber natürlich auch ausländischen Kräften um die Kontrolle der Ressourcen. Mangels einer politökonomisch fundierten Theorie der Rückentwicklung sozialistischer Ökonomien in kapitalistische lässt sich hier nur festhalten, dass nach der Auflösung der UdSSR auch die Russische Föderation unter Boris Jelzin auf dem Weg der Auflösung war. Das hätte sicher die Abhängigkeit von ausländischen Monopolen unter Führung der USA bedeutet mit der Gefahr, dass Russland eine Halbkolonie wird. Mit der Konsolidierung der Staatsmacht Russlands unter Wladimir Putin gewann die neue nationale Bourgeoisie die Kontrolle zurück. In der Reaktion darauf zeigen sich Widersprüche zwischen den Interessen der US- und der europäischen Monopole.
Während die USA ihre Interessen nach ihren Regeln mit ihrer überlegenen Staatsmacht „unipolar“ durchsetzen wollen und dazu Gefolgschaft einfordern, wollen vor allem Deutschland und Frankreich das gerade nicht und fordern „multipolar“ gesetzte Regeln ein, die ihnen eine Beuteverteilung auf gleicher Augenhöhe sichert.
Aggression gegen Russland und China
Das haben die deutschen und französischen Imperialisten auch im Ukraine-Konflikt 2014 mit den Minsker Verträgen verfolgt, das heißt 4-Parteien-Gespräche zwischen Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland, ohne die USA. Gleichzeitig wiesen sie die USA darauf hin, dass eine zu aggressive Haltung Russland näher zu China bringen würde und umgekehrt.
Auf der Sicherheitskonferenz 2020 in München rief US-Außenminister Pompeo zum offenen Kalten Krieg gegen China auf, ohne auf einmütige Zustimmung von Deutschland und Frankreich zu stoßen. Macron konterte mit der Forderung nach digitaler und nuklearer Souveränität der EU.
Darauf reagierte die US-Finanzoligarchie mit der verschärften Aggression gegen Russland, um die „NATO-Partner“ einzubinden. Nachdem sich Russland in der belorussischen Krise nicht in einen Krieg ziehen ließ, ist das nun leider in der Ukraine gelungen. Das Ziel des US-Imperialismus ist deutlich: Putin stürzen, Russland destabilisieren und China das große und rohstoffreiche Hinterland nehmen. China wird gewarnt, Russland zu retten bei Strafe eines Totalembargos. Damit soll die Allianz von China und Russland gesprengt werden. Die EU wird an die Seite der USA gezwungen.
Interessen des deutschen Monopolkapitals
Die deutsche Finanzoligarchie muss nun ihre Unabhängigkeitspolitik, die sie in Kooperation mit Frankreich in der EU durchsetzen will, taktisch anpassen. Die von der EU 2020 formulierten strategischen Themen bleiben: Bei der „Dekarbonisierung“ geht es um die Unabhängigkeit von den Öl- und Gasmärkten, die von den USA kontrolliert werden. Die deutsche Zwischenlösung mit russischem Gas ist aber nun gefährdet. Das zweite strategische Thema der EU ist die digitale Souveränität, ohne die die geplante unabhängige Rüstungstechnologie nicht möglich ist. Um Zugeständnisse an die US-Öl-, -Gas-, -Rüstungs- und -Digitalwirtschaft wird nun gefeilscht.
Der Ukraine-Krieg und die dadurch erzwungenen Zugeständnisse an das US-Kapital traf den deutschen Imperialismus, als er sich bereits herauskommen sah aus der zyklischen Krise, die 2018 begonnen hatte und durch die Pandemie verstärkt wurde.
Im ersten Quartal 2022 liegt nun die Industrieproduktion immer noch etwa 5 Prozent unter dem Vorkrisenhöchststand. Ein weiterer Aufschwung ist unwahrscheinlich, auch wenn die meisten Großkonzerne Rekordgewinne und steigende Umsätze melden. Denn das gilt nicht für die Masse der mittleren und kleineren Kapitale, die derzeit größere Schwierigkeiten haben als in der Pandemiekrise, wo man sich relativ schnell mit Staatshilfen stabilisierte. Aber noch halten sich die Insolvenzen in Grenzen und die Erwerbslosenzahlen bleiben auf hohem Niveau noch relativ stabil.
In der sich jetzt schnell entwickelnden neuen ökonomischen Krisenlage versucht die deutsche Regierung weiter, die Krisenlasten vom Monopolkapital fernzuhalten, ohne eine politische Krise zu erzeugen. Der wachsende politische Druck der USA verstärkt aber die Energiekrise, damit auch die Inflation, die in die gefürchtete Stagflation übergehen könnte und droht sogar den rettenden Ausweg aus den letzten zyklischen Krisen, Wachstum in China, zu versperren.
Um den „sozialen Frieden“, die freiwillige Unterordnung der Massen, zu erhalten, greift die Regierung auf Mittel zurück, die bereits vor der Pandemie in Erwartung der zyklischen Krise bereitgestellt wurden. Gesprochen wurde von 500 Milliarden in Deutschland und 750 Milliarden der EU.
Krisenlösung?
Die Frage ist, ob massive Staatsinterventionen mit frischem Geld unter dem zunehmenden Druck von Innen und Außen das labile Gleichgewicht zugunsten der deutschen Finanzoligarchie noch einmal herstellen können.
Der archimedische Punkt des „sozialen Friedens“ liegt dabei in der Hegemonie der Sozialpartnerschafts-ideologie in den mächtigen Gewerkschaften des DGB mit Sozialdemokraten in der Führung. Die einwirkenden Klassenkräfte beider Seiten sind immer noch aufgebaut um die Betriebsratsfürsten der Großindustrie. Der Klassenkampf um die Gewerkschaften spiegelt sich in der SPD, in der Linkspartei und auch bei den Grünen – 22 Prozent der Grünen-Mitglieder sind in DGB-Gewerkschaften und haben starke Positionen im öffentlichen Dienst.
Die traditionellen Kleinbürger, die hauptsächlich höhere Steuern fürchten, und ihre rechtsliberalen Politiker hatten in der Pandemiekrise stillgehalten, als die Staatsschulden für Rettungsaktionen weiter aufgebläht wurden. Jetzt sind weitere viele hundert Milliarden in der Diskussion. Der vorher eher diskrete Kampf um das Geld wird lauter und für uns etwas sichtbarer.
Krise der Politik
Die Notwendigkeit der schnellen taktischen Anpassung stößt auch die deutsche Politik in eine Krise. Außer einigen aufrechten Linken, denen große Anerkennung gebührt, wird eine Allparteienkoalition im deutschen Bundestag sichtbar, die um Höhe und Struktur der Staatsgelder feilscht: Wie viele Milliarden für die Besänftigung der USA? Wie viele für das mit Frankreich beschlossene gigantische EU-Rüstungsprogramm? Wie lange kann man die zerbrechende Infrastruktur und die wachsende soziale Krise ignorieren?
In dieser Lage der wachsenden Kriegsgefahr mit der drohenden zyklischen Krise auf dem Boden der sich zuspitzenden allgemeinen Krise ist daran zu erinnern, was Togliatti in einer ähnlich komplizierten Situation auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 geraten hat:
„Das Feuer gegen den Hauptkriegsbrandstifter konzentrieren,
im Interesse der Verteidigung des Friedens alle Verschiedenheiten, die in den Positionen der einzelnen imperialistischen Mächte bestehen, geschickt ausnutzen und keine Minute vergessen, dass der Schlag gegen den Feind im eigenen Land, gegen den ‚eigenen‘ Imperialismus gerichtet werden muss.“