Nach den Protesten in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen stellt sich die Frage: Wer ging da eigentlich auf die Straße? Ulla Jelpke, Innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, sieht das Kleinbürgertum sich radikalisieren, während die Frage, wer die Pandemie zahlt, außen vor bleibt.
UZ: In Berlin haben am vorletzten Wochenende bis zu 40.000 Personen gegen die Corona-Maßnahmen protestiert. Wo verorten Sie die Demonstrantinnen und Demonstranten politisch?
Ulla Jelpke: Da war ja von Esoterikern und Impfgegnern über Hippies bis zu Reichsbürgern und Nazis alles dabei. Friedensfahnen wehten neben Reichs-, russische neben US-Fahnen. Diese Leute einen ihre gemeinsamen Feindbilder – das „Merkel-Regime“, die „Lügenpresse“, die „Corona-Diktatur“. Es wurde zwar viel von Freiheit, Frieden und Liebe gesprochen, doch konkrete soziale Forderungen fehlten völlig. Niemand hatte ein Problem damit, dass erkennbare Nazis und Reichsbürger mitliefen und antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet wurden. Unter Freiheit verstehen viele dieser Demonstranten ganz im neoliberalen Sinne ihre egoistische Freiheit, keine Rücksicht auf Schwächere nehmen zu müssen. Das ist rechts.
UZ: Die Organisatoren der Proteste weisen es ja zurück, Sympathien für das rechte Spektrum zu besitzen …
Ulla Jelpke: Das sind Lippenbekenntnisse. Aber der Hauptorganisator von „Querdenken711“, Michael Ballweg, betont auch immer wieder, dass man sich nicht spalten lassen wolle. Es ist lächerlich, wenn Ballweg behauptet, keine Rechtsextremen auf der Demo gesehen zu haben. Es gab diesmal sogar mehr schwarz-weiß-rote Reichsfahnen als schwarz-rot-goldene Fahnen. Der Pressesprecher von „Querdenken711“, Stephan Bergmann, faselte vor der Demo auf dem „YouTube“-Kanal eines AfD-Politikers von der „Befreiung der Welt“ durch Deutschland. Er stammt selbst aus dem Reichsbürgermilieu und behauptet, Deutschland sei nicht souverän und das Grundgesetz Besatzungsrecht. Rechtsextreme unterwandern diese Proteste nicht, sie führen sie an!
UZ: Berlins Innensenator Andreas Geisel hat vergeblich versucht, die Proteste zu verbieten, weil die Teilnehmer ankündigten, sich nicht an Hygieneauflagen zu halten. Und nach dem „Sturm auf den Reichstag“ wurde sofort der Ruf nach schärferen Gesetzen laut.
Ulla Jelpke: Auffällig ist ja zunächst, dass „Bild“-Zeitung und Politiker von FDP, CDU und AfD plötzlich die Meinungsfreiheit in Gefahr sahen – ganz anders, als wenn linke oder prokurdische Demos verboten werden.
Schwer nachzuvollziehen ist, dass eine Kundgebung mit unübersehbarer rechtsextremer Präsenz direkt vor dem Reichstagsgebäude stattfindet und die Polizei sich weit im Hintergrund hält. Ich frage mich schon, ob hier nicht diese Bilder erzeugt werden sollten, um das Verbot nachträglich zu rechtfertigen und Gesetzesverschärfungen zu begründen.
Ich halte es allerdings für hochproblematisch, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit unter Berufung auf den Infektionsschutz einzuschränken. Es gibt bislang keinerlei Nachweise, dass sich Corona durch Demonstrationen verbreitet hat. Das war weder nach den Black-Live-Matters-Kundgebungen noch nach der ersten großen Demonstration gegen die Corona-Auflagen am 1. August der Fall.
Wir sollten diese Proteste vor allem als politisches Problem sehen. Die Masse der Teilnehmer sind ja weder Nazis noch haben sie ein klares rechtes Weltbild. Wir sollten ihnen deutlich machen, dass man nicht mit den Todfeinden der Demokratie gemeinsam für Grundrechte demonstrieren kann.
UZ: Wie erklären Sie sich, dass Themen wie ein gerechter Zugang zum Gesundheitssystem, eine ordentliche Entlohnung des medizinischen Personals oder auch Themen wie gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität bei den Protesten der „Querdenken“-Initiative keine Rolle spielen?
Ulla Jelpke: Das liegt sicherlich an der sozialen Zusammensetzung dieser Protestbewegung und auch ihrer Führung. Es scheint mir in der Masse nicht die Arbeiterklasse zu sein, die da auf die Straße geht, sondern ein Großteil dieser Leute, auch die Führung dieser Protestbewegung, besteht aus Selbstständigen, aus Freiberuflern oder kleinen Unternehmern, deren soziale Interessen sich im Ruf nach Freiheit von vermeintlicher oder tatsächlicher staatlicher Gängelung widerspiegeln. Wir haben es hier mit einem von Abstiegsängsten geplagten Bürgertum und vor allem Kleinbürgertum zu tun, das sich angesichts der Corona-Krise radikalisiert.
UZ: Nun ist Deutschland aber doch bisher ganz gut durch die Krise gekommen, obwohl es keinerlei Erfahrungen mit einer solchen Pandemie gab. Was hätten Sie anders als die Bundesregierung gemacht?
Ulla Jelpke: Fast alle Länder, auch links regierte, haben ähnliche Maßnahmen angeordnet. Die greifen allesamt tief in Grundrechte ein – was gerechtfertigt sein kann, um das Grundrecht auf Leben zu schützen, aber ständig auf die Verhältnismäßigkeit geprüft werden muss. Wenigstens im Nachhinein muss erforscht werden, welche Maßnahmen tatsächlich einen positiven Effekt hatten, um für den Fall einer weiteren Welle passgenauer vorgehen zu können.
Die Bundesregierung gibt sich leider in den Antworten auf unsere diesbezüglichen parlamentarischen Anfragen kein bisschen selbstkritisch, sie kündigt auch keine eigenen Untersuchungen an. Zusätzliche Fehler in der politischen Kommunikation und widersprüchliches Agieren – man denke an das Wirrwarr um Maskenpflicht und Tests für Reiserückkehrer – sind natürlich Wasser auf die Mühlen der sogenannten Corona-Rebellen. Man muss beständig begründen und erklären und auch Fehler offen zugeben.
Was ich aus linker Perspektive kritisieren würde, ist ein schiefer Ansatz beim „Lockdown“ im März und April: Die Absprachen von Bund und Ländern zielten ja sehr stark auf den Bereich der Regeneration, aber nicht zum Beispiel darauf, die nicht lebensnotwendige Produktion herunterzufahren. Die Demonstrationsfreiheit fiel in einigen Ländern komplett herunter, bis das Bundesverfassungsgericht intervenierte.
Zudem hätten wir bei den Hilfen für die Lufthansa gleich die ganze Fluggesellschaft verstaatlicht, anstatt ihr Milliarden reinzuschieben, ohne ein Mitspracherecht gegen Entlassungen zu haben. Auch bei der Verteilung der Gelder hätten wir auf mehr soziale Gerechtigkeit geachtet.
UZ: Im Gegensatz zu Ländern, die wie etwa Italien viel stärker von der Pandemie betroffen waren, gab es in der Bundesrepublik keine Ausgangssperren und es droht auch kein Polizeistaat. Sehen Sie trotzdem Gründe, gegen die staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie auf die Straße zu gehen?
Ulla Jelpke: Was die Maßnahmen an sich angeht, muss man, wie gesagt, den Spagat schaffen, sie kritisch zu überprüfen, ohne dem Darwinismus der sogenannten Corona-Rebellen das Wort zu reden.
Auf die Straße gehen sollten wir vor allem mit der Forderung, die Kosten der Pandemie nicht auf die Werktätigen abzuwälzen. Wir sollten für soziale Ziele demonstrieren wie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für das Pflegepersonal, für mehr staatliche Hilfen für Solo-Selbstständige und höheres Kurzarbeitergeld, für die Enteignung von unhygienischen Virenschleudern und Ausbeutungsbetrieben wie den Tönnies-Fleischfabriken.
Gerade mit Blick auf den Gesundheitssektor müssen wir jetzt mit Nachdruck fordern: Es muss Schluss sein mit dem Spardiktat und Profitzwang. Das Gesundheitswesen muss dafür da sein, der Bevölkerung zu dienen, Krankheiten so gut wie möglich in den Griff zu kriegen, und nicht, um Gewinne zu produzieren.
Das Gespräch führte Markus Bernhardt