Chile und die DDR

Souveränität und Solidarität

Max Rodermund

Enteignung der Kupferbergwerke; staatliche Kontrolle über den Außenhandel sowie den Banken- und Finanzsektor; Verstaatlichung von Unternehmen der zentralen Infrastruktur, der Energie, der Kommunikation und der Textilindustrie; Mindestlöhne, kostenlose Gesundheitsversorgung, ein staatliches Wohnungsbauprogramm, umfassende Förderung der Bildung; Ablehnung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und Unterstützung der antiimperialistischen Kämpfe und des Aufbaus des Sozialismus, insbesondere auf Kuba. Diese Schlaglichter aus dem Regierungsprogramm der Unidad Popular (UP), das in Folge des Wahlsieges am 4. September 1970 zügig umgesetzt wurde, versetzten die Vertreter des Imperialismus in höchste Alarmbereitschaft. Henry Kissinger stellte bereits am 15. September fest: „Die Wahl Allendes ist ernst, ernst für die amerikanischen Interessen in Chile.“

Die Kommunistische Partei Chiles (PCCh) begründete den agrarischen, antiimperialistischen und antimonopolistischen Inhalt der revolutionären Kampfetappe mit den in Chile herangereiften Kräfteverhältnissen und Besonderheiten der kapitalistischen Entwicklung. Typisch für die Entwicklung in den Ländern Lateinamerikas war die Verbindung einer Großgrundbesitzeroligarchie mit ausländischem Kapital, sodass sich vorkapitalistische, feudale Besitzverhältnisse mit einer kapitalistischen Produktion mischten, die vorrangig auf wenige Produkte landwirtschaftlicher und mineralischer Rohstoffe fokussiert blieb.

Die DDR-Regierung hatte vor diesem Hintergrund bereits die Bodenreform der Regierung unter Eduardo Frei, die von der UP fortgesetzt und vertieft wurde, politisch unterstützt. Sie begrüßte die weiteren Maßnahmen der UP vollumfänglich. Nach den US-amerikanischen Unternehmen und Eigentümern waren es die der Bundesrepublik, die am stärksten durch die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen der UP in Mitleidenschaft gezogen wurden. Chile bildete mit 35 Prozent den wichtigsten Lieferanten für Kupfer in die Bundesrepublik. 20 Prozent des in Chile enteigneten Landes wurde den Händen deutscher Staatsangehöriger entrissen. Die intensiven Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Chile reichten zurück bis ins 19. Jahrhundert und festigten eine typische Rollenverteilung im internationalen Produktionsprozess: die Ausrichtung auf den Rohstoffexport und den Industriegüterimport, die die Entwicklungsmöglichkeiten Chiles beschränkte.

Im April 1971 erkannte Chile die DDR trotz massiver Interventionsversuche durch die BRD an. In der Folge schlossen die DDR und Chile Handelsabkommen und Verträge über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit ab und vertieften den politischen Austausch. Für das südamerikanische Land lag ein zentrales Ziel darin, seine Handelsbeziehungen zu diversifizieren. Die DDR wollte ihre Importe, einschließlich Kupfer sowie Halb- und Fertigwaren aus Kupfer, erweitern. Die Handelsverträge sahen zudem Lieferungen von Anlagen und Ausrüstungen für die Entwicklung der chilenischen Wirtschaft vor. Teil der Vereinbarung waren die Entsendung von DDR-Experten für den Kupferbergbau und die Land- und Ernährungswirtschaft sowie die Ausbildung chilenischer Fachkräfte in der DDR – alles, und das ist entscheidend, auf Grundlage der Verstaatlichung des Kupferbergbaus und weiterer Produktionsbereiche. Die Arbeit eines Ende 1971 gegründeten gemeinsamen Ausschusses für wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Kooperation zum gegenseitigen Nutzen wurde zusehends durch die Störaktionen und Sabotageakte der inneren und äußeren Reaktion unterlaufen.

3810 Bundesarchiv Bild 183 S0128 026 Berlin Luis Corvalan und Erich Honecker - Souveränität und Solidarität - Chile, DDR - Theorie & Geschichte
Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles besuchte 1977 die DDR. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-S0128-026 / CC BY-SA 3.0 / Bearb.: UZ)

Umfangreiche Solidaritätssendungen nach Chile begleiteten die staatlichen Wirtschaftsbeziehungen. Im Laufe des Jahres 1973 fuhren DDR-Frachter nach Chile, beladen mit Ausrüstung für eine komplette Poliklinik, mit Medikamenten, Impfstoffen und Schulmaterial sowie Lastwagen und Kleinkrafträdern. Insgesamt lieferte die DDR Spenden im Wert von 42 Millionen DM. Die letzten drei Frachter kamen Ende August in chilenischen Häfen an. Die an Bord befindlichen Medikamente, 8.000 Tonnen Mehl, Konserven und Industriewaren erreichten die chilenische Bevölkerung nicht mehr. Der faschistische Staatsstreich unter Führung von Augusto Pinochet verhinderte ihre Verteilung.

Von einem Tag auf den anderen war das Leben von Kommunisten, Sozialisten und Demokraten in Chile bedroht. Das faschistische Militär verfolgte, folterte und tötete Angehörige und Unterstützer der Volksfrontregierung – mit eifriger Unterstützung deutscher Faschisten, des BND und offener Zustimmung aus Politik und Wirtschaft der Bundesrepublik.

Die DDR brach zehn Tage nach dem Putsch die diplomatischen Beziehungen mit Chile ab und versuchte auf teils abenteuerlichen Wegen, politisch Verfolgte aus dem Land zu holen. Mit der Ausschleusung des Generalsekretärs der Sozialistischen Partei (PS), Carlos Altamirano, im Kofferraum des Autos eines Geheimdienstmitarbeiters der DDR über Argentinien gelang der DDR ein wirkungsvoller Erfolg. Bis heute sind ehemaligen DDR-Bürgern die Schrecken und die breite Solidaritätswelle, die dem Putsch folgten, in bleibender Erinnerung. Nach dem 11. September 1973 fanden etwa 5.000 Chilenen Exil in der DDR.

Nach ihrer Ankunft in der DDR wurden sie zunächst in Heimen untergebracht, wo sie Deutsch lernten. Dann folgte ihre Ansiedlung in zwölf größeren Städten der DDR, wo sie Neubauwohnungen erhielten und zudem mit einem zinslosen Kredit ausgestattet wurden. Die meisten nahmen im weiteren Verlauf eine Arbeit auf, um ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Andere begannen mit einer Berufsausbildung oder einem Studium. Chilenische Kinder besuchten DDR-Schulen, wobei die Inhalte der Fächer Spanisch, chilenische und lateinamerikanische Geschichte und Geografie von chilenischen Pädagogen erarbeitet wurden. Der Aufenthalt der Kinder und Jugendlichen wurde vom Solidaritätskomitee der DDR finanziert. In Berlin gründeten politische Exilanten das „Büro Chile Antifascista“, einen Knotenpunkt für die Integration der Chilenen und die andauernde Solidaritätsarbeit für Chile. Zusätzlich bestanden in der DDR die Auslandsbüros der UP und der PS.

Die Machtfrage stand im Zentrum der Debatten um den Militärputsch. Eine zentrale Lehre bestand zweifellos in der notwendigen Konsequenz, die man der Reaktion entgegenbringen musste. Die DDR unterstützte auch an dieser Front. Während der Pinochet-Diktatur wurden 21 Mitglieder der PCCh in der Nationalen Volksarmee der DDR militärisch ausgebildet.

Der US-Imperialismus setzte die Spur der gewaltsamen Ausrottung des Kommunismus in Lateinamerika mit der „Operation Condor“ und unter Zuhilfenahme des unter Pinochet geschaffenen und von deutschen Faschisten mit aufgebauten Geheimdienstes „DINA“ in den nächsten Jahren fort. Die beispiellose Politik der Deregulierung und „Liberalisierung“ unter Pinochet, die neben den Renten Gesundheit, Strom, Wasser und Bildung privatisierte, stellte zugleich sicher, dass die alte Rollenverteilung innerhalb des weltweiten Produktionsprozesses wiederhergestellt wurde.

Für nicht einmal drei Jahre wurde in Chile mit der Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft und der Kommandogewalt über Finanzen und Investitionen eine allmähliche Verschiebung der historisch gewachsenen internationalen Arbeitsteilung möglich. Die DDR unterstützte diesen Pfad, während die Bundesrepublik – mal verdeckt, mal offen – alles daran setzte, ihn zu beenden.

Unser Autor ist Mitarbeiter der „Internationalen Forschungsstelle DDR (IF DDR)“. Die IF DDR befasst sich mit den Erfahrungen, ideologischen Debatten und Entwicklungen der antiimperialistisch-internationalistischen Strategie der DDR und des sozialistischen Lagers. Die Forschungsstelle veröffentlicht ihre Publikationen international und in Zusammenarbeit mit „Tricontinental: Institute for Social Research“ – mit dem Ziel, die Erfahrungen des Sozialismus für fortschrittliche Kämpfe weltweit aufzugreifen. Eine ausführliche Version des Artikels ist zu finden unter ifddr.org.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Souveränität und Solidarität", UZ vom 22. September 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit