Auch 33 Jahre nach der Annexion der DDR können die Wessis in den Konzernetagen den 3. Oktober feiern

Sonderwirtschaftszone Ost

Tag der Deutschen Einheit – Warum ist niemand in Feierlaune?“ Das fragte besorgt der „Spiegel“ in seiner Ausgabe zum 3. Oktober. Aus Sicht der arbeitenden Menschen zwischen Ostsee und Thüringer Wald ist die Frage einfach zu beantworten: Der Osten ist auch 33 Jahre nach der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik eine Sonderwirtschaftszone und neoliberales Experimentierfeld. Hier wird länger gearbeitet als im Westen und dies für deutlich weniger Lohn. Durchschnittlich erhalten die Beschäftigten 24 Prozent weniger Gehalt als ihre Kolleginnen und Kollegen in Westdeutschland. Gerade einmal in 20 Prozent der Betriebe wird nach Tarif gezahlt. Nur 45 Prozent der Beschäftigten erhalten einen Tariflohn und dieser ist in der Regel niedriger als vergleichbare Löhne im Westen.

Nach Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) arbeitete 2020 jeder dritte sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte in Ostdeutschland im Niedriglohnsektor. Im Vergleich dazu lag der Anteil der Niedriglohnempfänger in Vollzeitjobs in den westdeutschen Bundesländern bei 16,5 Prozent. In absoluten Zahlen ausgedrückt mussten im Untersuchungszeitraum mehr als 1,2 Millionen in Vollzeit Beschäftigte zwischen Weimar und Görlitz ihre Arbeitskraft für weniger als 2.203 Euro brutto im Monat verkaufen.

Noch bis in die 2010er Jahre wurde diese extreme Form der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft sogar als Standortfaktor beworben. So legte die ehemalige CDU-geführte Landesregierung in Erfurt eine Werbekampagne für Investoren mit dem Titel „Niedriglohnland Thüringen“ auf. Diese wurde zwar mit dem Regierungswechsel zu „Rot-Rot-Grün“ eingestellt. Am Lohnniveau im Freistaat hat sich nach dieser kosmetischen Maßnahme jedoch nichts substanziell geändert.

Auch eine aktuelle Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes im Auftrag der Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ bestätigt die deutlichen Lohnunterschiede zwischen Ost und West. Demnach bekommt fast jeder fünfte Beschäftigte in Ostdeutschland – was knapp einer Million Menschen entspricht – weniger als 13 Euro brutto pro Stunde. Zum Vergleich: Im Westen erhält „nur“ knapp jeder sechste Lohnabhängige einen Stundenlohn von unter 13 Euro.

Die Benachteiligung betrifft nicht nur die Löhne, sondern auch die Arbeitszeit. Der DGB hatte hierzu bereits 2020 Zahlen für Thüringen veröffentlicht, die exemplarisch für ganz Ostdeutschland stehen. Im Freistaat ist die jährliche Arbeitszeit 65 Stunden länger als im bundesweiten Durchschnitt. Das sind mehr als anderthalb zusätzliche Arbeitswochen.

Doch es gehe eben nicht nur um das Materielle, „sondern um das Gefühl, gleichwertig zu sein“. So kommentierte Franz-Walter Steinmeier in einem Interview mit den Tagesthemen am Vorabend des 3. Oktober die Verhältnisse in den „neuen Bundesländern“. Angesichts dieser „aufmunternden Worte“ des Bundespräsidenten werden sich die Älteren in den abgehängten und deindustrialisierten Regionen im Osten vielleicht an ihren Staatsbürgerkundeunterricht erinnern und daran, dass sich Kapitalismus und soziale Gleichheit ausschließen.

Den ehemaligen Kalikumpels in Bischofroda kommt möglicherweise ihr monatelanger Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze in der Nachwendezeit in den Sinn. Damals reifte nicht nur unter den Bergleuten die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung des Ostens weder ein bedauerlicher Zufall noch Kollateralschaden im sogenannten „Einigungsprozess“ war. Vielmehr war es erklärtes Ziel der neuen Herren, die bis dahin achtgrößte Volkswirtschaft der Erde ohne Rücksicht auf die dort lebenden und arbeitenden Menschen abzuwickeln. So wurden aus den ehemals volkseigenen Betrieben und Kombinaten, die die Privatisierungen und den Kahlschlag durch die Treuhand überlebten, verlängerte Werkbänke westdeutscher Konzerne. Unternehmerische Entscheidungen diese Standorte betreffend – bis hin zu Werksschließungen und Massenentlassungen – werden seither in Stuttgart, München oder Frankfurt am Main getroffen. Dies erklärt, warum zumindest in den dortigen Vorstandsetagen auch am diesjährigen 3. Oktober die Feierlaune nicht verflogen ist.

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"Sonderwirtschaftszone Ost", UZ vom 13. Oktober 2023



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