Aus Anlass der Veröffentlichung des zweiten Bandes der Memoiren von Egon Krenz

So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben

Frank Schumann

Der jüngst erschienene zweite Band der Memoiren des einstigen Staatschefs der DDR Egon Krenz führt direkt in den inneren Kreis der Staatsführung und in jene Phase, die seitens des Westens infolge von „Wandel durch Annäherung“ die „Konterrevolution auf Filzlatschen“ vorbereiten sollte. Krenz richtet sein Augenmerk auf die Zeit nach der diplomatischen Anerkennung der DDR, auf die „Neue Ostpolitik“ der SPD-Regierung und das ständigen Schwankungen unterliegende Verhältnis zu Moskau. Er berichtet über offizielle Ereignisse und gibt den Blick frei auf so manchen noch immer nicht erhellten Hintergrund. Vom Westen als „Honeckers Kronprinz“ aufmerksam beäugt, war er involviert in politische Entscheidungsprozesse und zugleich ein sensibler Beobachter der Akteure in Ost und West, schließlich auch der ambivalenten Entwicklungen, die Michail Gorbatschows „Peres­troika“ in der Sowjetunion und den Bruderstaaten auslöste. Was angesichts der 1989er-Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau ablief, berichtet ein ehemaliger Staatschef, der eine Wende einzuleiten sein Amt antrat und nach 50 Tagen demissionieren musste – faktenreich, selbstkritisch und differenziert, ohne seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft zu relativieren. Im ersten Teil des Interviews in der UZ vom 12. Januar fragte sich Krenz vor dem Hintergrund des Vernichtungskriegs des deutschen Faschismus gegen die Sowjetunion: „Wäre es nicht angesichts dieser Tragik die Aufgabe der deutschen Politiker aller Couleur und aller Zeiten gewesen, die Russophobie aus Deutschland zu verbannen und das Verhältnis des vereinten Deutschlands zu Russland nach dem Prinzip zu gestalten, dass es nur mit Russland – und nie gegen Russland – Frieden geben wird? Die Russen waren dazu bekanntlich bereit.“ Er wies darauf hin, dass die DDR immer für den Frieden eingetreten war. Selbst Antikommunisten, wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), hätten immerhin noch ein „Gespür für Krieg“ gehabt.

Frank Schumann: Sie haben sich in den 1980er Jahren mehrfach mit dem späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder getroffen. Worum ging es dabei?

Egon Krenz: Schröder war als Vorsitzender der Jungsozialisten in der SPD ein mutiger Mann. Er kritisierte die damaligen Sanktionen der Bundesrepublik gegen die Sowjetunion und er setzte sich für die Teilnahme westdeutscher Sportler an den vom Westen boykottierten Olympischen Sommerspielen in Moskau 1980 ein. Schröder war in den Westmedien auch deshalb gehässigen Vorwürfen ausgesetzt, weil er mit uns sprach. Man unterstellte ihm, er wolle eine „Aktionseinheit mit der FDJ“ schmieden, er belebe die „Volksfront und die Wiederherstellung der Einheit der sogenannten Arbeiterbewegung“. Das alles beeindruckte Schröder nicht. Als ich ihn bei der Trauerfeier für Hans Modrow am 15. März 2023 nach über 40 Jahren wieder traf, erinnerten wir uns, dass wir uns einst 1978 in Moskau kennengelernt hatten. Die politischen Kräfte, die Schröder damals diffamierten, tun es heute wieder. Schröder und ich haben viele grundsätzliche politische Meinungsverschiedenheiten. Dass er sich trotz Verleumdung nach wie vor als „Russlandversteher“ sieht, hat meinen Respekt.

Frank Schumann: Schröders Partei, die SPD, ist aber auch für die Ausgrenzung von Kommunisten verantwortlich. Hat das Ihre Beziehungen zur DKP und SDAJ nicht belastet?

Egon Krenz: Nein, DKP und SDAJ waren unsere Verbündeten. Bis heute habe ich hohe Achtung vor ihren Aktivitäten für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Zu den dunklen Flecken auf der keineswegs weißen Weste der BRD gehören die harten sozialen und politischen Auseinandersetzungen der 1950er Jahre. Es gab gewaltige Streiks, über die man heute so wenig spricht wie über die tiefen gesellschaftlichen Konflikte. Die FDJ, die KPD und andere fortschrittliche Organisationen wurden verboten, ihre Mitglieder gejagt, verurteilt und inhaftiert. Am 11. Mai 1952 wurde das FDJ-Mitglied Philipp Müller auf einer Friedensdemonstration in Essen erschossen, am 2. Juni 1967 starb in Westberlin der Student Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel. Wie ein roter Faden zieht sich die Verfolgung politisch Andersdenkender durch die Geschichte dieser Republik. Notstandsgesetze wurden beschlossen und ein „Radikalenerlass“ verhängt, mit dem Menschen aus ihrem Beruf gedrängt wurden. Berufsverbote gibt es bis heute. Die Opfer des Kalten Krieges in der Bundesrepublik, die mit Berufsverboten und Gefängnisstrafen belegt worden waren, warten übrigens bis heute auf Rehabilitierung.

Frank Schumann: Geradezu exemplarisch für die gängige Geschichtsklitterung ist für mich die Sache mit Norbert Pötzl, auf die Sie in Ihrem Buch eingehen.

Egon Krenz: Er kam als „Spiegel“-Redakteur zu mir und löcherte mich vier Stunden mit Fragen zu Honecker, weil er eine Biografie über ihn schreiben wollte. Dann schickte er mir jene Seiten in die Haftanstalt nach Plötzensee, auf denen ich vorkam, und wünschte deren Autorisierung. Er hatte zum Beispiel meine Erzählung über meine erste Begegnung mit Honecker verarbeitet und in seine westdeutsche Sprache übersetzt: Da habe der „Pimpf“ Egon vor seinem Führer gestanden. In diesem Moment wurde mir klar: Nichts, aber auch gar nichts hatte dieser Mann von der DDR verstanden. Weder war ich jemals Hitlerjunge noch die DDR mit dem Faschismus verwandt. Ich schrieb ihm darum: „Noch immer sprechen wir unterschiedliche Sprachen. Wenn Sie beispielsweise für mich das Wort ‚Pimpf‘ (Seite 27) verwenden, mag das für Sie umgangssprachlich als Synonym für ‚kleiner Junge‘ stehen. Für mich sind Pimpfe ‚Hitlerjungs‘. Auch in der Neuen Rechtschreibung von Bertelsmann wird dieser Begriff mit ‚Angehöriger des Jungvolks‘ umschrieben.“ Pötzls „Pimpf Egon“ ist für mich gar nicht so weit entfernt von der Aussage des Springer-Chefs Mathias Döpfner, im Osten gäbe es nur „Kommunisten oder Faschisten“. Es handelt sich kaum um Entgleisungen oder Verirrungen einzelner Journalisten. Von derart infamem Klartext oder in subtilerer Schreibweise vorgetragen, ist die Medienlandschaft noch immer voll.

Frank Schumann: Ich vermute: Ihre beiden Briefe an Pötzl 2002 blieben ohne Wirkung.

Egon Krenz: Ja und nein. Ich staunte nicht schlecht, wie Pötzl, der Honecker nie getroffen hatte, besser über ihn Bescheid zu wissen meinte als ich, der über 20 Jahre eng mit ihm zusammengearbeitet hatte. Diese arrogante, anmaßende Besserwisserei gehört offensichtlich zur DNA bestimmter Vertreter westdeutscher Eliten. Und ja, ich hatte doch Wirkung erzielt. Pötzl rächte sich gleichsam für meinen Widerspruch mit einem Kommentar zum ersten Band meiner Erinnerungen. „Ergötzen können sich daran nur unerschütterliche DDR-Nostalgiker, die dem vermeintlichen Arbeiter-und-Bauern-Staat nachtrauern. Davon“, höhnte Pötzl in der „Süddeutschen Zeitung“, „gibt es jedoch offenbar in Ostdeutschland noch so viele, dass ein Machwerk wie dieses die Bestsellerliste stürmen kann.“

Frank Schumann: 20 Jahre hat er gelauert, um nachzutreten. Verbissene Ausdauer …

Egon Krenz: Im Verfolgen bestimmter Ziele hat sich die deutsche Bourgeoisie schon immer als sehr beharrlich erwiesen. Sie verzeiht nie – auch wenn sie vieles absichtsvoll vergisst. Hermann Kant, Schriftstellerpräsident der DDR, erinnerte in seinem auch durch mein Zutun am 9. Oktober 1989 in der „jungen Welt“ publizierten offenen Brief daran, dass wir uns „den anderen weggenommen“ haben, als wir die DDR gründeten: „Sie wollen uns wiederhaben.“

Frank Schumann: Was ihnen auch gelang. Wobei – ich hatte damals Sonntagsdienst in der Redaktion, als wir seinen Text in die Zeitung brachten – Kant seinerzeit, wie wohl wir alle, nicht frei von Naivität war. „Wenn wir nicht möchten, dass uns die, denen wir uns weggenommen haben und die uns wiederhaben wollen, sukzessive wiederkriegen, müssen wir uns mit uns selbst verständigen. Kritisch und selbstkritisch, offen, nicht wehleidig, hart und geduldig.“

Egon Krenz: Ich weiß nicht, ob Kant oder ob wir alle naiv waren. Wir haben möglicherweise die Absichten der USA und der NATO-Staaten unterschätzt und geglaubt, ihr Charakter habe sich geändert: Sie seien gewissermaßen gezähmt, eingehegt durch friedliche Koexistenz, durch internationale Vertragswerke, zur Vernunft gezwungen durch die Parität der Waffen. Das war unser Irrtum. Wir scheiterten allerdings nicht an der fehlenden Selbstverständigung, von der Kant sprach, sondern vor allem an der fehlenden ökonomischen Potenz. „Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung“, prophezeite Lenin 1919. Daran sind wir gescheitert. Die Chinesen haben gelernt – von Lenin und aus unseren Fehlern.

Frank Schumann: Es sieht so aus – auch wenn der „Westen“ dies mit aller Macht verhindern möchte. Im Übrigen hatte Kant in einem „junge Welt“-Interview auf unsere Frage, was für ihn das Beste an der DDR sei, geantwortet: „Dass es sie gibt.“

Egon Krenz: Sehen Sie, und eben dies ist der Grund, weshalb ich die DDR immer verteidigen werde und nicht verstehe, weshalb dies nicht auch alle deutschen Linken in gleicher Weise tun. Diese DDR war, trotz aller Unvollkommenheit und Unfertigkeit, der fortschrittlichste Staat, der je auf deutschem Boden existierte. Schon im „Kapital“ verspottete Karl Marx „die Schwülstigkeit und das hochtrabende Wesen der bürgerlich-demokratischen Magna Charta der Freiheiten und Menschenrechte, diese ganze Phrasendrescherei über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im Allgemeinen, die die Spießer und Philister aller Länder blendet“ – so Lenin 1919. Das klingt, als sei es heute geschrieben.

Frank Schumann: Oder aber: dass sich an den Zuständen nichts wesentlich geändert hat. Die Phrasen sind geblieben, die Verwirrung und Verblendung auf der anderen Seite auch. Eigentlich könnte man doch resignieren.

Egon Krenz: In manchen Momenten bin auch ich der Verzweiflung nahe, wenn ich die Nachrichten verfolge. Wenn ich sehe, wie wir – und damit meine ich weder Klassen, Parteien noch Staaten – scheinbar gegen alle Vernunft und bekanntes Wissen handeln. Wir wissen, dass in sechs Jahren das Weltklima irreparabel kippt, wenn die Menschheit nicht radikale Maßnahmen ergreift. Trotzdem – um nur ein ökologisches Thema aufzugreifen – haben die Regierungs-Grünen durchgesetzt, dass keine fossilen Brennstoffe durch Pipelines aus Russland bezogen werden. Stattdessen werden nicht weniger umweltbelastendes Gas und Öl für viel Geld aus anderen Regionen der Welt auf Tankern herangeschippert, die zusätzlich die Atmosphäre verpesten und die zum Löschen Anlagen erfordern, die erst errichtet werden müssen. Vor meiner Haustür, auf der Insel Rügen, soll zum Beispiel ein LNG-Terminal errichtet werden. Als wenn dies nicht schon schlimm genug wäre, soll dies auch noch mitten in der Laichzeit der Heringe geschehen. Das wäre eine ökologische Katastrophe.

Frank Schumann: Na, so schlimm wird’s schon nicht kommen.

Egon Krenz: Doch. Wenn in einem Laichgebiet in einer kritischen Zeit gebaut wird, ist die Existenz des Ostseeherings gefährdet und damit die Küstenfischerei in der Ostsee. Das alles wissen die politisch Verantwortlichen in Berlin, der grüne Wirtschaftsminister inklusive. Und dennoch wird es durchzusetzen versucht – gegen alle Logik und Vernunft. Und dann gibt man sich erstaunt, wenn die Leute AfD wählen.

Frank Schumann: Die sind auch nicht besser und vom gleichen bürgerlichen Stamm.

Egon Krenz: Natürlich, und es gibt nicht einen einzigen Grund, diese Partei zu wählen – was ich schon seit Jahren sage. Aber ihre Demagogie verfängt. Sie gibt den Menschen das Gefühl, dass sie deren Sorgen und Ängste aufnimmt, sie artikuliert, weil es die anderen Parteien nicht tun. Statt „Brandmauern gegen rechts“ zu errichten – die ohnehin fallen werden, wenn sich die etablierten Parteien dadurch politische Vorteile versprechen –, muss man die eigene Politik ändern. Wie eben nicht mehr Waffen für die Ukraine den Frieden näherbringen, so schafft die Verteufelung der AfD diese nicht aus der Welt. Man muss das Problem an der Wurzel packen. Also eine andere Politik machen – sozialer, ökologischer, antimilitaristischer, völkerverbindender, kurzum: antikapitalistischer. Aber das ist unter den hier herrschenden Machtverhältnissen so gut wie unmöglich. Also muss man diese verändern. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.

Egon Krenz
Gestaltung und Veränderung
Erinnerungen, Band 2
edition ost, Berlin 2023, 26,00 Euro
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"So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben", UZ vom 19. Januar 2024



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