13.838 – das ist die Zahl der „Fälle“ sogenannter „Totalverweigerer“ beim Bürgergeld laut „tagesschau.de“ – alle Familienmitglieder bereits mit eingerechnet. Das sind weniger als 1.600 real arbeitsfähige Menschen, um die es geht, wenn „Bild“ und FDP die Abgründe der sozialen Hängematte beschreiben. Diese verschwindend geringe Zahl wurde als Wahlkampf-Hetzthema mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen auserkoren. Und, eigentlich unglaublich, es funktioniert. Seitdem wird über das Bürgergeld diskutiert. In den allermeisten Fällen über seine angeblich ungerechtfertigte Höhe und die unzureichende Möglichkeit, es Menschen wegzunehmen. Besonderes Ärgernis in den Augen der Wahlkämpfenden von Union bis zu den Grünen: das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2019, das die Sanktionshöhe beim Bürgergeld auf 30 Prozent begrenzt. Dort wurde geurteilt, dass bei festgestellter Bedürftigkeit ein Existenzminimum zu gewährleisten ist und Totalkürzungen daher unzulässig sind.
„Sozialpolitiker“ des bürgerlichen Lagers drehen diese Argumentation nun um und geben zu Protokoll: Wer sich der Annahme einer Arbeit verweigert und dabei mit „wirklich“ negativen Konsequenzen rechnen muss, aber dennoch im „Verweigerungsmodus“ bleibt, der könne auch nicht wirklich bedürftig sein. Ergo: Weg mit dem Geld, 100-prozentige Sanktionen.
Andernorts werden derweil für viel Geld Studien in Auftrag gegeben. Bahnbrechende Erkenntnis daraus: Müssen Menschen mit schweren finanziellen Einbußen rechnen, dann sind sie eher bereit, jede Arbeit anzunehmen. Allerdings seien die Bedingungen, die sie in diesen Jobs vorfinden, oft sehr schlecht. Zwar kann zu dieser Erkenntnis auch jede Person mit gesundem Menschenverstand kommen, hier zeigt sich aber gut: In der bewusst betriebenen direkten Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse liegt auch die verheerende Auswirkung des politischen und ideologischen Klassenkampfs, der in Form der „Bürgergelddebatte“ aktuell stattfindet.
In Zeiten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht und sich der real vorhandene und von Millionen Menschen erwirtschaftete gesellschaftliche Reichtum in immer weniger Händen konzentriert, ist es für die Herrschenden extrem bequem, über die „Leistungsverweigerung“ der „Totalverweigerer“ zu diskutieren statt über die Vermögen der Reichen.
Apropos Leistung: Eine Ärztin in Deutschland muss 150 Jahre arbeiten, um das Jahreseinkommen eines DAX-Vorstandsmitglieds zu verdienen – und als Problem gilt vielen dennoch die Höhe des Bürgergelds. Das ist konkreter Ausdruck bürgerlicher Ideologie. Die zunehmend spürbaren Verwerfungen des täglichen kapitalistischen Wahnsinns führen allerdings bei manchen gesellschaftlichen Akteuren zu überraschend klaren Erkenntnissen: Mit Blick auf den Pflegenotstand vor allem in der Altenpflege hat die AOK kürzlich ein Positionspapier veröffentlicht. Darin regt die AOK an, gemeinsam mit den Kommunen eine Bedarfsplanung für alle Bereiche und Sektoren der pflegerischen (Langzeit-)Versorgung, ambulant wie stationär, zu entwickeln. Zudem schlägt sie vor, sie von dem gesetzlichen Zwang zu befreien, jeden Leistungsträger auf dem Pflegemarkt automatisch für die Abrechnung von Leistungen zulassen zu müssen (Kontrahierungszwang). Die hysterischen Reaktionen der privaten Pflegeunternehmen und ihrer Lobbyorganisationen ließen nicht lange auf sich warten: Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) spricht vom „AOK-Pflege-Sozialismus“ und „planwirtschaftlichem Dreiklang“ – „Kassen, Kommunen, Klüngelei“. Der Bundesverband ambulante Dienste und stationäre Einrichtungen (BAD) unterstellt der AOK gar potentielle Verfassungsfeindlichkeit, da der Vorschlag einen Angriff auf Artikel 12 GG (Berufsfreiheit) darstelle. Sichtbar wird: Der auch ideologische Kampf um gesellschaftliche Fragestellungen und die Deutung konkret erlebbarer Auswirkungen des Kapitalismus ist in vollem Gange.