Das Institut für Marxistische Studien und Forschungen analysierte noch im selben Jahr die Streiks. Diese Studie war die Grundlage für das Buch, aus dem die redaktionell bearbeiteten Texte auf dieser Seite entnommen sind: Friedemann Schuster: Die September-Streiks. Auf den Arbeiter kommt es an, Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter, 1969.
140000 Streikende. 69 bestreikte Betriebe. 532308 Streiktage. „Wilde Streiks“. Betriebsbesetzungen. Bei Hoesch in Dortmund beginnt es. Vor allem Stahlarbeiter und Bergleute aus dem Ruhrgebiet und dem Saarland erkämpften im September 1969 Lohnerhöhungen für über acht Millionen Beschäftigte – ohne aktive Unterstützung der Gewerkschaftsführung, bei der IG Bergbau und Energie gegen deren Widerstand. Damit begannen die „einzigen wenigen Jahre der bundesdeutschen Geschichte, in denen es zu einer Umverteilung zugunsten der Löhne und zuungunsten der Gewinne kam“, schreibt der Historiker Peter Birke.
Als am Mittag des 3. September 1969 aus den Kehlen Tausender Arbeiter im „Blaumann“ das Lied erklingt: „So ein Tag, so wunderschön wie heute …“, ist damit ein 36-Stunden-Streik beendet, aber eine Streikwelle eingeleitet, für die es kein Beispiel in der Geschichte der Arbeiterbewegung der BRD gibt.
Die Streikaktion im Hoesch-Konzern beginnt in der „Westfalen-Hütte“. Am Dienstag, dem 2. September, kurz nach Beginn der Frühschicht, ruft der Betriebsrat die Vertrauensleute zusammen und teilt ihnen mit, dass die Direktion die Forderung nach 20 Pfennig innerbetrieblicher Zulage abgelehnt und stattdessen nur 15 Pfennig geboten hat.
Warum die Forderung nach einer innerbetrieblichen Zulage? Im Zuge des Konzentrationsprozesses in der BRD-Wirtschaft entsteht der heutige Hoesch-Konzern 1966 aus der Fusion von Hoesch und der Hörder-Hütten-Union. Die „Westfalen-Hütte“ von Hoesch wird mit den Werken „Phoenix“ in Hörde und „Union“ in Dortmund zusammengefasst. In jedem der drei Betriebe herrscht ein anderes Lohnniveau.
Da der letzte Tarifvertrag noch 1968 abgeschlossen wird und es infolge der langen Laufzeit nicht zu tariflichen Lohnerhöhungen kommt, ergibt sich faktisch ein Lohnstopp gerade in der Zeit der schnell ansteigenden Konjunktur auf dem Stahlmarkt.
30 Pfennig
Um 9.00 Uhr ist die gesamte Schicht – 5 000 Mann – vor dem Gebäude der Hauptverwaltung versammelt. Sprechchöre werden angestimmt. Jetzt sind es nicht mehr 20 Pfennig, sondern 30 Pfennig, die gefordert werden.
Arbeiter fertigen Plakate mit der Aufschrift „30 Pfennig“. Der Betriebsrat fordert einen Lautsprecherwagen der Werksfeuerwehr an. Er wird zum Informationszentrum der streikenden Belegschaft. Betriebsrat und Arbeiter sprechen zu den 5 000.
Nach drei Stunden rückt die Direktion von ihrem 15-Pfennig-Angebot ab. Jetzt will sie 20 Pfennig geben. Die Belegschaft bleibt bei ihren 30 Pfennig. Der Betriebsrat teilt der Direktion diese Forderung mit, aber Chef Dr. Harders beginnt mit einem Verzögerungsmanöver. Er erklärt am Telefon, er verhandele erst am nächsten Morgen ab 8 Uhr.
Empörung bemächtigt sich der Versammelten, die noch wächst, als die Nachricht verbreitet wird, der Werkschutz sei im Gebäude der Hauptverwaltung zur Kontrolle der Eingänge eingesetzt worden. Annähernd 1 000 Arbeiter besetzen daraufhin das Direktionsgebäude. Kein Werkschutz kann dagegen an.
Die Diskussion über den Lautsprecher des Feuerwehrwagens geht weiter. Bald heißt er wegen seiner roten Farbe „Die rote Streikzentrale“. Von hier aus leiten die aktivsten Gewerkschafter den Kampf, ohne dass es zur Bildung einer Streikleitung kommt. Der Wagen wird wie ein Kommandostand von den Arbeitern bewacht. Die Luft wird herausgelassen, damit er von Beauftragten der Direktion nicht weggefahren werden kann.
Ein Kollege nach dem anderen geht zum Mikrofon des Lautsprechers. Immer wieder wird die Hauptforderung verkündet: „Nicht 25, 26, 27, 28, nicht 29 Pfennig, sondern 30 Pfennig, 30 Pfennig, 30 Pfennig!“
Selbst in die Hand nehmen
Der Arbeiter, der die Vermittlung am Lautsprecher sicherstellt, wird faktisch von den Versammelten gewählt. Wohl weil er als Bundestagskandidat der von der DKP unterstützten „Aktion Demokratischer Fortschritt“ bekannt ist, meinen einige Streikende, es gebe „eine Hausmacht am Lautsprecher“.
Meinungsverschiedenheiten werden laut, als ein Werkstudent über den Lautsprecher erklärt, es habe sich jetzt gezeigt, dass von der Gewerkschaft und vom Betriebsrat nichts zu erwarten sei. Man könne sich eben nicht auf „bürokratische Vertretungen“ verlassen, sondern müsse vielmehr die Dinge selber in die Hände nehmen. Ein kommunistischer Arbeiter erklärt, jedermann solle seine Sorgen und Probleme über den Lautsprecher vortragen können, aber man werde niemanden mehr sprechen lassen, der gegen den Betriebsrat oder gegen die Gewerkschaft auftrete: „Die Gewerkschaft sind wir. Nur mit der Gewerkschaft und mit dem Betriebsrat können auf die Dauer Erfolge erzielt werden.“
Differenzen entstehen, als ein SPD-Betriebsrat versucht, den Wahlkampf in die Streikversammlung hineinzutragen – keine vier Wochen später wird nach der Bundestagswahl die sozialliberale Koalition gewählt werden. Das stößt auf Ablehnung. In der Folgezeit werden solche Versuche nicht mehr unternommen.
Kommunist verteidigt Sozialdemokraten
Angesichts der geschlossenen Haltung der Belegschaft macht sich der Gesamtbetriebsrat die 30-Pfennig-Forderung zu eigen. Er lehnt einstimmig das Direktionsangebot ab. Der sozialdemokratische Betriebsratsvorsitzende Pfeiffer teilt das der Versammlung mit, ruft aber Proteste hervor, weil er zur Wiederaufnahme der Arbeit auffordert.
Ein kommunistischer Arbeiter verteidigt ihn vor der Belegschaft. Entscheidend sei doch, dass der Betriebsrat einstimmig beschlossen habe, die Forderung der Belegschaft zu unterstützen. Der Kollege Pfeiffer habe auf Grund der Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes zur Arbeitsaufnahme auffordern müssen, aber diese Gesetze seien doch jedem Kollegen geläufig.
Am Nachmittag gibt ein Betriebsrat bekannt, dass Chef Dr. Harders die Forderung und jede weitere Verhandlung bis zum nächsten Morgen abgelehnt habe. Der Unternehmensvorstand tage an einem geheimen Ort. Der Betriebsrat erklärt: „Wir gehen kein Zehntel von den 30 Pfennig herunter. Wenn die schlafen gehen wollen, wir schlafen nicht, wir bleiben hier.“
Nun tauchen Transparente aus den Werkhallen auf. Die Aufschriften: „Wir lassen uns nicht weichmachen!“ – „Entweder 30 Pfennig oder wir bleiben wochenlang hier!“ – „30 Pfennig mehr!“ – „Ausbeuter!“ – „Alle Räder stehen still, wenn der Arbeiter 30 Pfennig will!“.
In der Nacht erreicht die streikenden Arbeiter der „Westfalenhütte“ die Nachricht, dass auch auf „Phoenix“ und „Union“ die Arbeit niedergelegt worden ist.
Helme in die Luft
Schon am frühen Morgen des zweiten Streiktages wird bekanntgegeben, dass die Arbeiter vom Werk „Union“ zur „Westfalen-Hütte“ und zur Hauptverwaltung demonstrieren. In der Innenstadt begegnen sich 10 000 streikende Arbeiter aus den drei Werken, alle in ihren blauen Arbeitsanzügen. Helme werden hochgeworfen, man umarmt sich. Dann geht die Demonstration gemeinsam weiter, zweieinhalb Stunden lang.
Auf ihrem Weg durch die Stadt reißen die demonstrierenden Arbeiter alle Wahlplakate der NPD ab. Auf die Verkehrsschilder wird die Zahl „30“ geschrieben. Die Demonstration endet vor dem Gebäude der Hauptverwaltung.
Eine Stunde später kommen die drei Betriebsratsvorsitzenden von der Verhandlung mit dem Chef zurück. Unter dem Eindruck der demonstrierten Kampfentschlossenheit muss der Chef die Forderung der Streikenden akzeptieren. Betriebsratsvorsitzender Pfeiffer gibt bekannt: „Die Direktion stimmt der 30-Pfennig-Forderung zu. Die Streiktage werden bezahlt.“ Und Pfeiffer setzt hinzu: „Dieser Erfolg ist euer Erfolg. Wir haben ihn alle gemeinsam errungen.“ Die Versammelten stimmen das Lied an: „So ein Tag, so wunderschön wie heute …“
Die Gewerkschaft sind wir
Spontaner Ausbruch? Warum die Arbeiter im September 1969 die Betriebe besetzten – und wie die Kommunisten die Bewegung vorantrieben
140 000 Arbeiter und Angestellte in 68 Betrieben der Bundesrepublik streiken im September 1969. Keine Gewerkschaft hat zu einem dieser Streiks aufgerufen. Die Streikenden haben sich ihr eigenes Bild von der gegebenen wirtschaftlichen Situation gemacht und handeln nach eigenem Ermessen.
Grundlage aller Streiks ist die sich verschärfende Ausbeutung, wie sie in der umfassenden Steigerung der Produktion und der Produktivität zugunsten einer unwahrscheinlichen Profitmaximierung bei nahezu stagnierender Lohnentwicklung ihren Ausdruck findet. Geringe Tariflohnerhöhungen sowie lange Laufzeiten der Tarifverträge lassen die Gewerkschaften als inaktiv erscheinen.
Im Betrieb spüren die Arbeiter, wie die Arbeit immer intensiver und die Überstundenleistungen immer umfangreicher werden. Die allgemeine Verschärfung der Ausbeutung wird relativ leicht erkennbar, weil es zahlreiche Lohndifferenzen auf betrieblicher, auf Konzern-, auf regionaler und auf Branchenebene gibt.
Allein durch ihre äußeren Formen unterscheiden sich die Septemberstreiks wesentlich von früheren Arbeitskämpfen in der Bundesrepublik. Fast alle Streiks nehmen die Form der faktischen Betriebsbesetzung an, die sich vor allem daraus ergibt, dass es sich nicht um gewerkschaftlich organisierte, sondern um direkt von den Belegschaften ausgehende Streiks handelt. Die ständige Anwesenheit der Belegschaften in den Betrieben nimmt den Unternehmern darüber hinaus die Möglichkeit der Aussperrung, da der Einsatz von Polizei auf Werksgelände zweifellos zu einer massiven Konfrontation mit den Streikenden führen müsste.
Die treibende Kraft in den Septemberstreiks sind die aktiven Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb, darunter vielerorts die gewerkschaftlichen Vertrauensleute und Betriebsräte.
Nach dem Streik wird bei Hoesch die IG Metall kritisiert, weil sie sich von „innerbetrieblichen Auseinandersetzungen“ distanziert hat. Die stark aufflammende antigewerkschaftliche Stimmung wird — wesentlich von kommunistischen Arbeitern — abgefangen und gegen die Unternehmensleitung gerichtet. Die sozialdemokratischen Gewerkschafter sind erleichtert, dass die Kommunisten die antigewerkschaftlichen Stimmungen „nicht für sich ausnutzen“. Betriebsratsvorsitzender Pfeiffer erklärt, die DKP-Betriebszeitung informiere korrekt und bekunde eine „gute Haltung“.
Die Erfahrung der gemeinsamen Aktion im Interesse der Arbeiter und Angestellten führt dazu, dass die sozialdemokratischen Gewerkschafter gemeinsam mit ihren kommunistischen Kollegen an Aktionen gegen die NPD teilnehmen. Zu einem direkten antifaschistischen Engagement kommt es allerdings erst, als die NPD sich mit nationalistischen Parolen offen gegen den Streik wendet und Flugblätter auf den Straßen verteilt, in welchen es heißt: „Denkt an Deutschland — Streikt nicht um höhere Löhne!“
Versuche der Presseberichterstattung, den Streik als das Werk „kommunistischer Rädelsführer“ hinzustellen, werden empört zurückgewiesen. Die Meinung der Streikenden: „Das ist allein unsere Sache.“ Die „Bild-Zeitung“ wird von Streikenden verbrannt, weil sie den Streik überhaupt nicht erwähnt. Vereinzelt sagen streikende Arbeiter des Hoesch-Konzerns: „Da ist doch an unserem gesamten System etwas falsch, wenn so etwas möglich ist.“
Die Streiks sind jedoch vor allem von einem elementar-ökonomischen Bewusstsein geprägt. Der Klassencharakter der Gesellschaft wird nur als Gegensatz zwischen Belegschaftsinteressen und Unternehmerinteressen einsichtig. Als Gegner werden „die Unternehmer“ begriffen. Latent ist ein stark ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den Absichten der herrschenden Kreise vorhanden.
Die Behauptung, die Kommunisten seien Leute, die an den Streiks ihr „politisches Süppchen“ kochen wollen, ist nicht haltbar. Dort, wo Kommunisten als Personen oder Gruppen, als Redner oder mit schriftlichem Material auftreten, ist ihr Ziel die Frontstellung gegen die Unternehmer, denen — nach ihrer Interpretation — Gewerkschaften und Arbeiter gemeinsam gegenüberstehen. Sie bemühen sich, unvermeidliche Kritik an den Gewerkschaften auf eine rationale Basis zu stellen, gewerkschaftsfeindliche Aktionen zu verhindern und die Notwendigkeit starker Gewerkschaften im Arbeiterinteresse hervorzuheben.