Eine „peinliche Panne“ nennt das Luxemburger „Tageblatt“ einen Vorgang, der in seinen historischen Dimensionen einen handfesten Skandal darstellt. Das gewerkschaftseigene Blatt und die Anzeigenzeitung „L’essentiel“ berichteten, dem Botschafter der Russischen Föderation sei „versehentlich“ eine Einladung zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am heutigen Samstag zugestellt worden. Darauf angesprochen, erklärte das Nationale Widerstandsmuseum als Veranstalter des Gedenkens, man habe dem Botschafter mitgeteilt, dass er „nun nicht mehr eingeladen“ sei.
Worum geht es hier? Der 27. Januar wurde im Jahr 2005 von der UNO zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärt. Anlass war der 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Soldaten der Roten Armee der Sowjetunion. Die Bilder der sowjetischen Soldaten, die das Tor des KZ aufstoßen und von den dort eingepferchten Häftlingen als Befreier begrüßt wurden, von Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee, die den Befreiten medizinische Hilfe leisten und Essen ausgeben, gingen und gehen seit Jahren aus diesem Anlass um die Welt.
Allerdings ist der 27. Januar bereits kurz nach seiner Erhebung zum Gedenktag auch politisch missbraucht worden. So erhebt der Staat Israel Anspruch darauf, den Tag als „seinen“ Gedenktag zu begehen. Ja, dem Terror der deutschen Faschisten, unterstützt von deren Verbündeten und Hilfswilligen, sind sechs Millionen Juden zum Opfer gefallen. Doch Juden waren nicht die ersten Opfer der Faschisten.
Die ersten Konzentrationslager der Nazis wurden errichtet für politische Häftlinge, nachdem die „normalen“ Gefängnisse bereits voll waren mit Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und anderen Antifaschisten. Später kamen Kriegsgefangene und Nazi-Gegner aus allen von den deutschen Faschisten überfallenen und besetzten Ländern hinzu, auch aus Luxemburg.
Die Befreiung von Auschwitz war also nicht nur eine Befreiung für die jüdischen Häftlinge, sondern für Menschen aus fast allen Ländern Europas. Der Gedenktag ist also ihnen allen gewidmet.
Angesichts der seit Jahren geschürten Konfrontation mit Russland, vor allem angesichts des Krieges in der Ukraine, wird die Russische Föderation aus dem öffentlichen Leben unserer Länder verbannt. Dem russischen Botschafter in Luxemburg wurde schlicht mitgeteilt, dass die Ukraine an dem Gedenken teilnehmen wird, und Ukrainer seien ja Teil der Roten Armee gewesen.
Hat man je davon gehört, dass Vertreter der USA nach ihren Kriegsverbrechen in Hiroshima, Vietnam, Irak – die Liste ist lang – von Gedenkveranstaltungen ausgeladen wurden?
In der Roten Armee kämpften Angehörige ALLER Nationen und Nationalitäten der Sowjetunion. Dieselbe Rote Armee wurde damals in der Ukraine von ukrainischen Faschisten und Nationalisten bekämpft, mit der Waffe, Seite an Seite mit der deutschen Wehrmacht. Die Anführer dieser Hilfswilligen, die aktiv an dem Massenmord an Juden beteiligt waren, werden in der heutigen Ukraine staatsoffiziell als „Nationalhelden“ gefeiert. Und das ist der eigentliche Skandal: Repräsentanten des Staates, der Juden-Mörder als „Nationalhelden“ verehrt, sollen heute im luxemburgischen Esch der ermordeten Juden gedenken.
Auf die Ausladung vom Gedenken antwortete der Botschafter der Russischen Föderation im Großherzogtum mit einem offenen Brief:
„Sehr geehrter Herr Direktor,
(…) es stellen sich jedoch einige Fragen. War es ‚aus Versehen‘, dass Sie mir die Einladung geschickt haben? Haben sie den Botschafter des Landes, dessen Armee vor 79 Jahren, im Januar 1945, dieses Vernichtungslager befreit und seine noch lebenden Märtyrer gerettet hatte, aus Versehen zur Zeremonie zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz eingeladen?
War es ‚aus Versehen‘, dass Sie den Botschafter des Landes eingeladen haben, das auf Kosten von 27 Millionen Menschenleben einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über den deutschen Nationalsozialismus geleistet hat. Ich denke, niemand wird es wagen zu leugnen, dass die Karte Europas und wahrscheinlich auch der Welt ohne diese kollektive Leistung des sowjetischen Volkes heute anders aussehen würde. Und es gäbe sicherlich weder das Großherzogtum Luxemburg, zumindest nicht als souveränen Staat, noch das Museum, das zu leiten Sie die Ehre haben.
Herr Direktor,
wie alle Museumsfachleute auf der ganzen Welt müssen Sie Geschichte lieben und kennen. Ich bin überzeugt, dass Sie diesen zweiten Brief, in dem Sie die Einladung zur Gedenkfeier widerrufen, niemals selbst geschrieben haben. Nur wer die Geschichte nicht kennt oder sie vergessen möchte, um sich nicht mit seinen politischen Spielereien zu blamieren, könnte Ihnen eine so ungeschickte Geste vorgeschlagen haben. Es steht mir nicht zu, zu erraten, welche Gefühle Sie hatten, als Sie diesen zweiten Brief unterschrieben haben, aber ich gebe zu, dass ich mich an Ihrer Stelle schämen würde.
Gezeichnet D. Lobanow
Botschafter der Russischen Föderation im Großherzogtum Luxemburg“
Übersetzung aus dem Französischen: Rainer Rupp