„Dies Volk […], das einst verliehen Bündel, den Oberbefehl, Legionen und alles, es hält nun still sich und hegt allein zwei Wünsche mit Furcht im Herzen, Brot und Spiele“, verspottete vor 2000 Jahren der Satiriker Juvenal die römische Bevölkerung, die sich ihre Entmündigung durch Kaiser August entsprechend kaufen ließ. Daran hat sich wenig geändert. Zu der Sorte politischer Unterhaltung, die Mitsprache durch warme Worte ersetzt, gehört seit 2001 das Lichtfest in Leipzig, mit dem am 9. Oktober der Massendemonstration des Jahres 1989 gedacht wird. Damals bewirkte das – nicht ein – Volk, so sehr uns Kommunisten das kränkt, den Fall einer politischen Macht, die ihrem Anspruch nicht mehr gerecht wurde, und die Dialektik der Geschichte enthält auch: Einige der Akteure von damals kämpfen heute noch, auch an der Seite von Kommunisten, für die gleichen Ziele. Nicht alle, die vom besseren Sozialismus sprachen, meinten damals schon: keinen.
Auf den Tribünen der politischen Macht stehen die heute nicht. Dorthin karrt man Prominente, die am 9. Oktober 1989 nicht dabei waren, aber sich darüber auslassen, was sie empfunden haben, als passiert ist, was sie gar nicht betraf. Dazu gehörte diesmal die evangelische Pfarrerin Margot Käßmann, die 1989 noch im hessischen Frielendorf predigte, die aber in ihrem Friedensgebet in der Nikolaikirche immerhin aktuelle Anlehnungen an kritisches Denken fand. Eindrücklich wies sie u. a. auf den Export deutscher Waffen an irakische Kurden und Saudi-Arabien, die „verbale Aufrüstung“ durch rechte Politiker, die Errichtung neuer Mauern an den Grenzen Europas oder die soziale Ungerechtigkeit auf der Welt, verblieb aber in unverbindlichen Schlussfolgerungen. Erwidern möchte man ihr: Weil „wir“ an den Profiten von Krauss-Maffei u. a. gar nicht beteiligt sind, möchten „wir“ uns deren Schuh auch gar nicht anziehen. Wer von Problemen spricht, sollte auch ihr Verursacher nennen.
Den Nestbeschmutzer machen durfte diesmal der polnische Journalist Adam Krzeminski, der in den 60er Jahren in Warschau und Leipzig Germanistik studierte – was ihm ohne den Beitrag des Sozialismus kaum möglich gewesen sein dürfte. Für junge Leser: Damals bekamen Studenten noch Geld von der Gesellschaft, um ihr Studium zu bestreiten, und mussten nicht arbeiten, um Miete und Studiengebühren zu bezahlen. Das heißt heute „Unrechtsstaat“ und meint: Die soziale Spaltung der Gesellschaft wurde beendet und auch Arbeiterkindern eine akademische Bildung ermöglicht. Der schnippelte in seiner einstündigen „Rede zur Demokratie“ aus seinem Wissen zur deutsch-polnischen Geschichte einen bunten Salat Gedankenreichtum: die Autokratien des 20. Jahrhunderts, der rechte Populismus von heute, garniert mit ein paar Namen wie Hermann Kant, Christa Wolf oder, man befürchtete es, Günter Grass. Das ganze hin und her verrührt: Viola! Ein „krasser Typ“ halt, wie es ein paar Studenten später formulierten, „Was der alles weiß!“ Jeder darf sich merken, was ihm schmeckte. Notiert habe ich mir das polnische Sprichwort über den Umgang mit Geschichte: „Es ist lange her und nicht wahr.“ (Interessierte können die Rede demnächst unter www.herbst89.de nachlesen.)
Die sprichwörtlichen Brot und Spiele bildeten dann Musik und Kerzen auf dem Augustusplatz. Auch dort kamen Redner zu Wort, wie die Journalistin und Dokumentarfilmerin Anke Ertner, mit gehaltvollen Aussagen, wie: „Ich war 14 Jahre alt, als 1989 die Mauer fiel, […] und gehörte nicht zu den Menschen, die für die Freiheit demonstrierten.“ „Ist doch egal“, mochte man ihr im Gefühl kuscheliger Beliebigkeit zuprosten, „schön, dass du heute auch für Freiheit und Demokratie bei uns bist.“ Oder sagen wir es so: Die meisten der 500 000 Leipziger, die am nächsten Morgen wieder in ihren schlecht bezahlten und prekären Jobs ihre Freiheit genießen mussten, hatten für solche Spektakel sowieso weder Sinn noch Zeit.