Als mir ein Juso einmal stolz von seinem Rhetorikseminar erzählte, schilderte er ausgiebig die „spannende“ Situation, in der er die Todesstrafe befürworten musste, als sei er davon inbrünstig überzeugt. Vorurteilsbeladen wie ich bin, überraschte mich solche Aufgabenstellung bei Schulungen für SPD-Nachwuchs wenig. Die Fähigkeit, innerhalb von wenigen Minuten umzuschalten und mehr oder weniger überzeugend das Gegenteil von dem zu vertreten, was der eigenen Haltung entspricht, schien mir eine notwendig zu vermittelnde Kernkompetenz.
Politiker gelten häufig als opportunistisch, vor allem solche, die sich sozialdemokratisch nennen. Dass Politiker opportunistisch sind, ergibt sich zumindest teilweise aus ihrem Berufsbild. Wer würde nicht sein Fähnchen immer mal wieder nach dem Wind ausrichten, wenn es doch überlebensnotwendig ist, um im Geschäft bleiben zu können?
Aber über die Jahre musste ich lernen: Es stimmt einfach nicht, dass es in der SPD nur Umfaller, Angepasste und Windbeutel gibt.
Nehmen wir als prominentes Beispiel den Parteivorsitzenden Sigmar „Siggi“ Gabriel und dessen Haltung zum Freihandelsabkommen TTIP, für die er Gegenwind von Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden, außerhalb und innerhalb seiner SPD kriegte und sogar Abstimmungsniederlagen in der SPD einstecken musste. Knapp 3,5 Millionen Menschen – die meisten davon in Deutschland – haben sich inzwischen schriftlich für einen Stopp der Verhandlungen ausgesprochen. Angesichts der existenzgefährdenden Wahlniederlagen auch in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wäre das sicherlich für viele Wackelkandidaten ein Grund, sich populistisch auf die Seite der TTIP-Gegner zu schlagen, um wenigstens hier zu punkten.
Aber was macht Siggi? Er hält an dem Projekt fest – unbeirrt und ungeachtet wahlpolitischer Konsequenzen. Ja, er lacht dem Volk verwegen ins Gesicht, wie es vor ihm nur Ebert getan hätte.
Da ist es doch ungerecht, wenn im Zusammenhang mit der Hannover Messe und der dort geplanten Pro-TTIP-Show nur von Merkel und Obama die Rede ist. Niedersachsen ist Siggis Revier, sein „Stammland“. Er gehört – ungeachtet der zusätzlichen Materialkosten – ins Visier der bundesweiten Proteste, die zu diesem Anlass angekündigt wurden.
Ja, Siggi gehört als lebensgroße Pappfigur gebastelt, auf jedes Anti-TTIP-Transparent, in jede Karikatur – egal ob sie Chlorbäder für Geflügel, drangsalierte Kommunen oder private Schiedsgerichte zum Thema hat.
Sollte auf der großen Schaubühne der Hannover Messe wirklich kein Platz mehr für Siggi sein, schlage ich vor, ihn in die westliche Provinz nach Lappenstuhl einzuladen und ihm den Widukind-Orden für standfeste Niedersachsen umzuhängen. So viel Loyalität gegenüber Kapitalinteressen und „Frei“handel darf doch nicht ungelobt bleiben.