Gericht nennt Grenzsicherung der DDR illegal

Siegerjustiz 2.0

Von Nina Hager

Deutsche Behörden haben Ermittlungen gegen 41 frühere Mitglieder des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und Ex-Grenzsoldaten der CSSR aufgenommen. Ermittelt wird wegen Todesfällen von Republikflüchtlingen an der Grenze zu Österreich bzw. der Bundesrepublik vor 52, 42 bzw. 33 Jahren. Die Fälle sind 2016 von der „Platform of European Memory and Conscience“ (PEMC) beim Generalbundesanwalt angezeigt worden. Die PEMC, ein Zentrum der antikommunistischen und antidemokratischen Offensive in Europa, wurde 2011 in Prag anlässlich des Gipfels der Ministerpräsidenten der Visegrád-Gruppe gegründet.

Es mag ein Zufall sein, zeugt aber vom ungebrochenen Willen, alles zu tun, um den Sozialismus zu verteufeln und zu delegitimieren: Zwei Tage vor dieser Nachricht hat das Bundesverwaltungsgericht Leipzig entschieden, dass ehemalige DDR-Bürger Anspruch auf Entschädigung haben, wenn sie durch ihre Flucht in den Westen gesundheitliche Schäden erlitten haben und noch heute darunter leiden. Geklagt hatte ein 56-jähriger Berliner wegen einer psychischen Erkrankung. Er war 26 Jahre alt, als er im Dezember 1988 mit seinem Bruder von Teltow-Sigridhorst nach Westberlin floh. Die traumatische Erfahrung der zwölfstündigen Flucht mit dem Bolzenschneider durch Grenzzäune führe noch heute zu Wutanfällen, Albträumen und Misstrauen.

Das Bundesverwaltungsgericht begründete die Entscheidung damit, dass die Grenzsicherung der DDR insgesamt „rechtsstaatswidrig“ gewesen sei. Der Senat stellte zudem fest, dass sich die Grenzsicherungsanlagen gegen Einzelpersonen gerichtet hätten – etwa wenn Minen explodierten, sich die Flüchtenden am Stacheldraht verletzten oder von Grenzposten verfolgt wurden. Hier wird fortgesetzt, was kurz nach 1990 begonnen wurde. 1991 hatte der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel auf dem deutschen Richtertag die Erwartung ausgesprochen, es müsse gelingen, „das DDR-Regime zu delegitimieren“. Kinkel setzte in seiner damaligen Rede die DDR „in weiten Bereichen“ mit dem deutschen Faschismus gleich.

Das war ein klarer politischer Auftrag zur juristischen Verfolgung. Entsprechende Vorgaben für Bildung, Wissenschaft, Gedenkstättenkonzepte und so weiter folgten. DDR-Bürger – Politiker, Militärs bis zu einfachen Grenzsoldaten, Juristen – wurden wegen ihres Handelns gemäß der Verfassung und den Gesetzen der DDR unter Verletzung des Einigungsvertrages und des Rückwirkungsverbots verfolgt und verurteilt. Der DDR wird – auch mit dem Leipziger Urteil, 28 Jahre nach Kinkels Forderung – noch heute abgesprochen, ein souveräner Staat mit einem eigenen Hoheitsgebiet und eigenen Gesetzen gewesen zu sein. Der besondere Charakter der hoch sensiblen Grenze zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen und Militärbündnissen, zwischen Blöcken, in denen die USA und die Sowjetunion die entscheidenden Hauptmächte waren, wird auch mit dem aktuellen Urteil negiert.

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"Siegerjustiz 2.0", UZ vom 2. August 2019



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