Frankreich: Trotz Sieg der NFP stehen die Zeichen gut für die extreme Rechte

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Der Sieger stand schnell fest, als am Sonntagabend um acht Uhr in Frankreich die Wahllokale schlossen. Es war nicht, wie so viele befürchtet hatten, der Rassemblement national (RN) um Jordan Bardella und Marine Le Pen; der lag schon in den ersten Hochrechnungen auf Platz drei, ohne Aussicht, auch nur annähernd die Mehrheit zu erreichen. Nein, der Sieger des Abends war die Nouveau Front populaire (NFP) – und das gleich doppelt. Zum einen hatte sie die meisten Sitze in der Assemblée nationale gewonnen; 182 sollten es letztlich werden. Zum anderen war der Plan aufgegangen, den RN durch den Rückzug der Drittplatzierten in der Stichwahl zu besiegen – also alle eigenen Kandidaten zurückzuziehen, die auf dem dritten Platz hinter Kandidaten des Macron-Bündnisses „Ensemble“ lagen, und dasselbe von „Ensemble“ zu verlangen, ergänzt um den Aufruf an die jeweiligen Wähler, ihre Stimme den verbliebenen Nicht-RN-Kandidaten zu geben. Damit gelang es, den RN auf lediglich 143 Parlamentssitze zu drücken, jenseits aller Hoffnung auf Teilhabe an der Macht.

Dem Erfolg in der Wahl folgte allerdings schon bald ein erster Dämpfer. Die NFP forderte umgehend den Posten des Ministerpräsidenten für sich ein – völlig zu Recht, denn schließlich hatte sie ja die meisten Parlamentssitze gewonnen. Allerdings war sie für den Posten auf die Stimmen oder doch zumindest auf die Tolerierung von „Ensemble“ angewiesen. Da zeigten sich bereits am Sonntagabend Widerstände. Ex-Ministerpräsident Édouard Philippe, als Chef der Partei „Horizons“ ein führender Politiker von „Ensemble“, behauptete, eine stabile Regierung lasse sich „weder mit dem Rassemblement national noch mit ‚La France insoumise‘“ (LFI) aufbauen. Am Montagnachmittag legte Innenminister Gérald Darmanin aus Macrons Partei „Renaissance“ nach. Es komme gar nicht in Frage, irgendeine Koalition zu bilden oder auch nur zu unterstützen, die „in einer wie auch immer gearteten Verbindung mit ‚La France insoumise’ steht“, erklärte er. Man solle die Parti Socialiste (PS) auffordern, mit LFI zu brechen; mit ihr könne man kooperieren. Nur wenig später plädierte François Bayrou, der Vorsitzende der „Ensemble“-Partei „MoDem“, für eine Koalition aller Parteien außer LFI und RN.

Ist das machbar? Zumindest in seinen ersten Reaktionen hielt die NFP die Reihen noch dicht geschlossen. Es wurden aber bereits Risse erkennbar. Die PS und die Grünen gingen zu LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon auf Distanz. Eine Abspaltung unzufriedener LFI-Abgeordneter deutete sich an. Für Präsident Emmanuel Macron bot das Chancen – zunächst mit einer Minderheitsregierung operieren, die PS und die Grünen weichklopfen, bis sie die NFP verlassen, nach Möglichkeit zumindest ein paar Konservative hinzuziehen: Das mochte, wie der „Renaissance“-Abgeordnete Sylvain Maillard einräumte, einige Zeit dauern; es war jedoch für den Präsidenten, fand Maillard, ein gewiss unbequemer, vielleicht aber gangbarer Weg. Genügend Zeit wäre wohl da: Neuwahlen, das sagen die geltenden Regeln, dürfen frühestens in einem Jahr abgehalten werden. Zudem ist eine Koalition ohne „Ensemble“ nicht möglich. Das Präsidentenbündnis kann also ganz in Ruhe verhandeln, bis es die NFP irgendwann gespalten hat. Nur nebenbei – von den 168 Ensemble-Abgeordneten verdanken nicht wenige ihr Parlamentsmandat der NFP und LFI, die ihre drittplatzierten Abgeordneten zugunsten von „Ensemble“ zurückgezogen und ihre Anhänger zur Wahl des Bündnisses aufgerufen haben.

Ob es so kommt – nun, so wird es in den Reihen von „Ensemble“ diskutiert; einstweilen bleibt das alles natürlich Spekulation. Je länger aber Ma­cron seine Politik weiterführen kann, die dem RN bereits rund ein Drittel aller Wähler in die Arme getrieben hat, desto größer die Gefahr, dass der RN noch weiter wächst. Er hat jetzt Zeit, sich – erheblich gestärkt – neu zu konsolidieren; er kann die Zeit nutzen, seine Fehler zu analysieren und zu beseitigen; er kann zum Beispiel allzu unansehnliche Kandidaten, die ihn wohl einige Stimmen gekostet haben, abstoßen und sein Image konsequent weiter polieren. Spätestens in drei Jahren stehen die nächsten Präsidentenwahlen an; macht Macron sich sowie sein Parteienbündnis weiterhin so unbeliebt wie bisher, hat Marine Le Pen spätestens 2027 leichtes Spiel. Wenn nicht schon vorher – ab dem Sommer 2025 ist das möglich – neue Parlamentswahlen ausgerufen werden und der RN schon dann absahnt. Die Zeit läuft gegenwärtig für ihn.

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"Sie haben alle Zeit", UZ vom 12. Juli 2024



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