In den Jahren 1960 und 1961 lebte die Welt am Rande einer militärischen Konfrontation von USA und Sowjetunion. Die DDR war in einer tiefen Krise, Zehntausende verließen sie Monat für Monat, ihre Stabilität war bedroht – in einer Region, in der sich die größte Konzentration von Truppen und Waffen weltweit befand. Die Bundesregierung heizte die Situation an: Im September 1960 kündigte sie zum Beispiel das Handelsabkommen mit der DDR zum 31. Dezember des Jahres. Als sie es in letzter Minute wieder in Kraft setzte, war der Zweck erfüllt: Das wirtschaftliche Chaos in der DDR war größer geworden. Erst durch die Schließung der Grenze in Berlin am 13. August wurden die Kriegsgefahr gebannt und der Kollaps der DDR verhindert.
In vieler Hinsicht ähnelte die Weltlage der heutigen: Krisen, atomare Aufrüstung, „maximaler Druck“, Unberechenbarkeit. Anders als heute sprachen aber Ost und West miteinander. Selbst das Scheitern der CIA-Söldner im April 1961 in der kubanischen Schweinebucht hinderte den gerade ins Amt gekommenen US-Präsidenten John F. Kennedy und den Ersten Sekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, nicht, sich am 3. und 4. Juni 1961 in Wien zu treffen. In der Frage von Krieg und Frieden kam es zwar zu keiner Einigung, aber zu einem Arrangement über Westberlin. Kennedy hatte offenbar keine Einwände dagegen, an dessen Trennlinie zur DDR Kontrollen einzuführen, wenn die Rechte der Westalliierten in Bezug auf Westberlin nicht angetastet wurden.
Die Initiative, feste Sperranlagen durch die Stadt und um sie herum zu bauen, ging nicht von der DDR-Führung aus. So veröffentlichte der Historiker Matthias Uhl 2009 ein Gesprächsprotokoll vom 1. August 1961, in dem Chruschtschow dem Ersten Sekretär der SED, Walter Ulbricht, über die Entscheidung, eine Mauer zu errichten, informierte. Der hatte Friedenssicherung und Maßnahmen gegen Abwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen verlangt, aber keine Festlegung auf eine bestimmte Art der Grenze. Das BRD-Ritual, ein Zitat Ulbrichts vom 15. Juni – „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“ – in Endlosschleife wiederzugeben, ist Teil einer fast 60jährigen Propagandashow. Linke-Politiker wie Petra Pau machen bei dem Mummenschanz mit. In einer Erklärung zum 13. August 2001, die noch heute auf der Website der Partei „Die Linke“ zu finden ist, heißt es mit Blick auf das Datum: „Keine andere politische Strömung hat mehr Grund, radikal mit der eigenen Geschichte, mit Irrtümern, Verfehlungen und Verbrechen umzugehen als die Linke.“
Das überschreitet deutlich die Grenze zur Verharmlosung des deutschen Faschismus und der politischen Strömungen, die ihm zur Macht verhalfen. Wer über die Mauer in Berlin reden will, darf von den Mauern um die Ghettos von Riga, Vilnius oder Warschau nicht schweigen, auch nicht von den Befestigungen um die deutschen Todeslager für sowjetische Soldaten, in denen bis Ende 1941 bereits zwei Millionen von bis dahin 3,3 Millionen Gefangenen gestorben waren – noch bevor die Vernichtung in Majdanek, Sobibor oder Auschwitz begonnen hatte. Dabei geht es nicht um Aufeinanderfolge, sondern um einen kausalen Zusammenhang. Der Sozialismus in der DDR entstand nicht nur nach dem deutschen Faschismus, sondern vor allem gegen ihn. 16 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der faschistischen Wehrmacht war zudem die Sowjetunion nicht bereit, der in der Bundeswehr neu erstandenen Wehrmacht eine Wiederholung des 22. Juni 1941 zu gestatten. Die war aber dafür aufgestellt worden.
Vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 war es dank der militärischen Sperranlagen, die NATO- und Warschauer-Vertrags-Staaten in Berlin und quer durch Europa hindurch voneinander trennten, bei Strafe des eigenen Untergangs nicht möglich, hier und auf anderen Kontinenten Kriege zu führen. Diese Grenze musste zerstört werden, damit das wieder möglich wurde. Mit Peter Hacks gesagt: „Balkone haben Brüstungen. Es tut/An jedem Abgrund eine Mauer gut.“ Die Berliner war eine Sicherung vor Rückfall und Absturz in die Barbarei.