In den letzten Wochen haben Hunderttausende in Hongkong gegen die Einführung eines Auslieferungsgesetzes protestiert. Die meist friedlichen Demonstrationen füllten Titelseiten und Nachrichtensendungen westlicher Medien. Westliche Nachrichtenagenturen verbreiteten überhöhte Zahlen von ein bis zwei Millionen Demonstranten, die von den Organisatoren, der „Civil Human Rights Front“, angegeben wurden, und ignorierten objektivere Schätzungen. Auch wenn die Zahlen eher bei einem Fünftel der in den Schlagzeilen verbreiteten liegen, bleibt die Tatsache, dass viele Bürger Hongkongs auf die Straße gingen, um Wut und Besorgnis zum Ausdruck zu bringen.
Die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam hatte den Gesetzentwurf inerst einmal auf Eis gelegt. Darauf folgten aber noch gewalttätigere Proteste. Regierungsgebäude und das Polizeipräsidium wurden belagert, Mitarbeiter der Verwaltung angegriffen.
Am 26. Juni waren Demonstranten zum US-Konsulat der Stadt marschiert mit Schildern mit der Aufforderung: „Präsident Trump: Bitte befreie Hongkong.“Am 1. Juli, dem Jahrestag der Rückkehr Hongkongs unter die Staatshoheit Chinas, stürmten maskierte Randalierer das Gebäude des Legislativrates, hissten die britische Kolonialflagge und zerstörten, was ihnen in die Finger kam.
Für den europäischen Betrachter schienen die Proteste eine simple Ursache zu haben: China versuchte, ein Gesetz durchzusetzen, das ihm erlauben würde, Dissidenten auf das Festland zu bringen, wo sie automatisch verurteilt würden. Das unterstrich das Motto der Demonstranten „Keine Auslieferung an China“. Den Inhalt der Gesetzesvorlage erläuterten ihre Gegner in Hongkong und Übersee nicht.
Trotz seines internationalen Status hat Hongkong derzeit nur mit 20 Ländern Auslieferungsverträge. Das Gesetz sollte das Verfahren standardisieren, mit dem mögliche Straftäter dorthin zurückgeschickt werden können, wo sie ihre mutmaßlichen Verbrechen begangen haben. Dies betrifft weltweit mehr als 100 weitere Rechtssysteme. Aber die Kampagne konzentrierte sich nur auf ein einziges, das Chinas.
Ironischerweise haben einige der 20 Länder, mit denen Auslieferungsabkommen bestehen, eine zweifelhafte Menschenrechtssituation und verfolgen politische Kritiker – zum Beispiel Singapur, Malaysia, Sri Lanka und die Philippinen. Im letzteren Fall gibt es eine skandalöse Klausel, wonach Frauen wegen „Straftaten im Zusammenhang mit rechtswidrigem Schwangerschaftsabbruch“ ausgeliefert werden können.
Der Gesetzentwurf hätte die Auslieferung an China oder ein anderes Territorium eingeschränkt:
• Die Straftat muss in der Zuständigkeit des ersuchenden Landes und nicht in Hongkong begangen worden sein.
• Es muss sich um ein Verbrechen handeln, das auch nach Hongkonger Recht als Straftat betrachtet wird.
• Auslieferung aus politischen oder religiösen Gründen ist verboten.
• Die Mindeststrafe für die Straftat muss sieben Jahre betragen, was mindere Straftaten ausschließt.
• Wer ausgeliefert werden soll, muss über die von einem Hongkonger Gericht verfügten Abschiebegründe informiert werden und hat das Recht auf Berufung.
Grenville Cross, Stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Staatsanwältevereinigung (IAP), schrieb in der „South China Morning Post“: „Zwischen den verschiedenen Teilen Chinas besteht ein Vakuum in der Strafverfolgung, von dem nur flüchtige Kriminelle profitiert haben. Sie fanden in Hongkong einen sicheren Hafen. Hongkong ist es jedoch seit der Wiedervereinigung über informelle Kanäle gelungen, die Rückführung von schätzungsweise 200 Verdächtigen vom Festland zu erreichen.“
Peking hat 30 Jahre lang nicht auf eine Gesetzgebung gedrängt. Laut einem Bericht der „South China Morning Post“ vom 29. Juni beruhte die Entscheidung der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, die Rechtslücke zu schließen, auf der Empörung über die Unmöglichkeit, einen jungen Hongkonger nach Taiwan auszuliefern, wo er seine schwangere Freundin erwürgt hatte. Er stopfte ihren Körper in einen Koffer, den er in Taipeh aufgab, und hob Geld von ihrem Konto ab. Obwohl er den Mord gestanden hatte, konnte er vor Hongkonger Gerichten nur wegen illegaler Geldwäsche angeklagt werden, der von ihm auf Hongkonger Boden begangenen Straftat, nicht wegen Mordes außerhalb der Sonderzone. Das Urteil lautete auf 29 Monate Gefängnis.
Dennoch hat Lam eindeutig Fehler gemacht. Sie hat die Möglichkeiten nicht bedacht, die das Gesetz den Anti-Peking-Truppen innerhalb und außerhalb Hongkongs bieten würde. Diese wenden sich entschieden gegen politische, wirtschaftliche oder kulturelle Prozesse, die Hongkong und das Festland einander annähern.
Ob ein Kompromiss möglich ist, ist schwer zu sagen, da die Opposition Blut geleckt at und sich um direkte westliche Intervention bemüht. Hongkong entwickelt sich zu einem Teil des geopolitischen Schlachtfelds.
Übers. und red. Bearbeitung: M. Idler