Hans Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ über Gerhart Hauptmann

Sich nicht entscheiden können

Von Rüdiger Bernhardt

Hans Pleschinski: Wiesenstein. Roman. München: Verlag C. H.Beck 2018, 552 S., 24.- Euro

Wer behauptet, dass es um dem Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann still geworden sei – mit seinem Ansehen sei es „jahrelang … nur bergab“ gegangen, so der Biograph Peter Sprengel –, bedenkt weder Hauptmanns ständige Gegenwart auf den Spielplänen der Bühnen noch seine Präsenz in den Schulen fast aller deutschen Bundesländer. Seine „Weber“, die kein Stück über Proletarier sind, wie der Autor meint, sondern über ausgebeutete Handwerker, erleben durch die ruinöse Entwicklung in Handwerk und Kleinbetrieben erneute Bestätigung. Mit vielen seiner Werke ist der sozialkritisch wirkende frühe Hauptmann bis heute weitblickend wirksam geblieben. Hans Pleschinski legt nun den Roman „Wiesenstein“ vor und widmet sich Gerhart Hauptmanns Leben vom Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 bis zum Tod im Juni 1946. Es ist ein gut geschriebenes und informatives Buch. Mehr noch: Es ist ein Buch gegen den Krieg, aus dem die Angst vor drohenden Wiederholungen spricht, es wirkt wie eine notwendige, nicht oft genug anzubringende Warnung. Die entsteht nicht aus dem Thema, obwohl der späte Hauptmann mit der „Atridentetralogie“ einiges zu nationalistischer Übersteigerung und nationaler Katastrophe beisteuert, sondern aus dem zeitgenössischen Umfeld, wozu Augenzeugen mit ihren „Szenen des Grauens“ durch Pleschinski in einem Interview herangezogen wurden.

Es ist ein Buch über Gerhart Hauptmann und seine Werke – sie werden über Gebühr am Geschehen beteiligt, auch die, die kaum wiederzubeleben sind. Recherchen des Autors haben sich mit Einfallsreichtum verbunden. Es ist ein besonderes Buch über den Krieg in seiner Grausamkeit, mit seiner grenzenlosen Vernichtung, den toten Zivilisten, die Straßengräben füllen. Nicht zu Hauptmanns Leben wird bisher Unbekanntes geboten, außer Tagebuchaufzeichnungen, sondern zur Vernichtung von Mensch und Landschaft im Osten. Der Autor schenkt dem Leser nichts; er warnt ihn und scheint ihn zum Widerstand gegen zunehmende Provokationen bringen zu wollen, wie sie seit einiger Zeit von Scharfmachern in der NATO ausgehen, die mit einem neuen großen Krieg drohen.

Entstanden ist ein Roman über einen Dichter, keine Biografie Gerhart Hauptmanns. Damit erklärt sich, dass die Recherche nicht immer neutral bzw. vollständig ist: Das Schicksal des sowjetischen Offiziers Grigori Weiss habe nicht „eruiert werden“ können. Eine Beschäftigung mit sowjetischen Kulturoffizieren, die für diese Lebensphase Hauptmanns Bedeutung hatten, scheint ausgeblieben zu sein und die Unterstützung des Hauptmann-Biografen Peter Sprengel konnte da nicht weiter helfen. Der Kunsthistoriker und Journalist Grigori Weiss, eigentlich Weisspapier, ist in Untersuchungen zu sowjetischen Kulturoffizieren zu finden; er hat sich bis 1977 – „Innostranaja Literatura“ 1977, Nr. 5 – zur Kulturarbeit nach 1945 geäußert. Genaueres Wissen über die sowjetischen Kulturoffiziere hätte der Passage über den Besuch Johannes R. Bechers und Weiss‘ auf dem Wiesenstein (dem Wohnort von Hauptmann im Riesengebirge) politisch ihr Gewicht gegeben. Es war kein zufälliger Einfall Bechers, den Weiss unterstützte. Es ging darum, Hauptmann als Ehrenpräsidenten für den Kulturbund zu gewinnen, nicht als Akademiepräsidenten, wie im Roman steht, und damit ging es um die deutschen Mitläufer im Dritten Reich, die Mehrzahl der Deutschen, die für den Antifaschismus gewonnen werden sollten. Eine solche Organisation konnte kein Kommunist aus dem Exil wie Becher repräsentieren, man benötigte eine Persönlichkeit an der Spitze, die nicht im Exil gewesen war, sondern die Zeit des Faschismus in Deutschland durchgestanden hatte. Hauptmann mit seinem Lebensprinzip der Entscheidungslosigkeit, was nicht unbedingt gleichbedeutend mit Opportunismus war, eignete sich. Den orientierungslosen Deutschen musste ein vergleichbares Schicksal angeboten werden, mit dem sich, bei aller Kritik an der Persönlichkeit, eine Zukunft gestalten ließ. Hauptmann war nicht die erste Wahl: Zuvor hatten die sowjetischen Kulturoffiziere, sie waren die Initiatoren, Thomas Mann angefragt, der ablehnte, und sich um Ricarda Huch und Bernhard Kellermann bemüht, die beide in Deutschland geblieben waren. Die eine wollte als Dichterin schweigen, der andere hielt sich als Unterhaltungsschriftsteller für nicht repräsentativ genug und wurde Vizepräsident.

So kam Hauptmann ins Spiel. Nicht als „Schirmherr meiner Akademie“ sollte er von Becher gewonnen werden, sondern die sowjetischen Kulturoffiziere hatten Hauptmann als Ehrenpräsidenten des Kulturbundes vorgesehen. Verglichen mit den anderen Besuchen und Begegnungen, die Pleschinski in großer Zahl und ausführlich beschreibt, war das ein politischer Vorgang ersten Ranges und von historischer Bedeutung, um die Konturen des zukünftigen Denkens zu bestimmen. Das fehlt in dem Roman und schränkt seine nationale, weil antifaschistische Bedeutung ein, die die sowjetischen Kulturoffiziere anstrebten. Es ist kein Wunder, dass der Dichter Johannes R. Becher, der zum ersten Kulturminister der DDR wurde, in dem sprachlich sorgfältig gestalteten Roman schlecht wegkommt: „…Becher war eine heikle Persönlichkeit mit heikler Vergangenheit.“ Die Wiederholung ist kein sprachlicher Lapsus, sondern beschreibende Absicht, die in anderen Fällen, wie bei dem Schriftstelle Gerhard Pohl, bei dem sie angemessener gewesen wäre, nicht verwendet wird. Eitel erscheint Becher im Roman außerdem: Während Land und Menschen unter der Nachkriegszeit leiden, reiste Becher unter schwierigsten Umständen als „Kulturkader“, dessen „Manschettenknöpfe … wohl nicht bloß vergoldet waren“. Der Autor zeigt sein sprachliches Können, aber die Anwendung verstimmt in diesem Falle.

Was aber macht das Buch so wichtig, wie am Beginn gesagt wurde? Ein Blick auf andere Werke des Autors macht es deutlich: Er hat einen Sinn für die Gefahr des Krieges. Als er 2011 das geheime Tagebuch des Herzogs von Croy unter dem Titel „Nie war es herrlicher zu leben“ herausgab, war es neben der Geschichte des Herzogs eine Geschichte der zeitgenössischen Kriege und ihrer Wirkung. Deutlicher wurde das im Thomas-Mann-Roman „Königsallee“, der in der Nachkriegszeit handelte – „Zerstörung, Schande waren nun das Erbe der Nation“ – und an den Zweiten Weltkrieges erinnerte („zerfetzt … begraben … erstickt … verschmort … Kein Wort konnte die Geschehnisse erfassen und zur Ruhe bringen.“).

Der Roman „Wiesenstein“ beginnt mit einer unbeschönigten Darstellung des zerstörten Dresden nach den Bombenangriffen vom 13. und 14. Februar 1945. Der erste Satz schlägt einen Grundton an: „Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke.“ Die Mordgrundbrücke ist authentisch, hier aber wird sie zum Signal für ausführliche Beschreibungen, wie der von Deutschen in die Welt getragene Mord in seine Heimat zurückkehrte. Aus der scheinbaren Extremsituation, in der sich der todkranke Hauptmann befindet, wird die Normalität des Alltags über das Kriegsende hinaus, als marodierende Banden im recht- und gesetzlosen Raum mordeten und raubten. Neben der Biografie Hauptmanns wird das Kriegsgeschehen im Osten beschrieben, besonders in Schlesien. Die erschütterndsten Passagen des Romans beschreiben die Vernichtung, mit der die von den Deutschen Angegriffenen, deren Heimat mit brutalem Gemetzel überzogen worden war, die Angriffe, Verbrechen und Vernichtungen in das Herkunftsland zurückbrachten. Allen nationalistischen Schreihälsen, sofern sie denn lesen können und willens sind, Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen, muss dieser Teil des Romans empfohlen werden, um den Hintergrund des unsäglichen „Deutschland den Deutschen“ zu erkennen.

Pleschinski meint keinen Vorkrieg, er meint auch keinen kleinlichen Hass, wie er sich in manchen anderen aktuellen Büchern findet. Er beschreibt Krieg damals, mit seiner brutalen und vernichtenden Wirklichkeit. Man kann sich nicht ausmalen, was heute an Vernichtungspotential dazu käme. Pleschinskis „Wiesenstein“ ist wie schon Kehlmanns „Tyll“ Seismograph einer drohenden Entwicklung, vor der er warnen will. Wie Hauptmanns Werke mancherlei präzise Voraussagen enthielten, auch in seinem „Till Eulenspiegel“, den Pleschinski schätzt, so ist das auch mit den Romanen „Wiesenstein“ und Kehlmanns „Tyll“ der Fall. „Erzählenswerteres kann man nicht finden, als Bericht, als Mahnung, als Schrecknis“, so der Autor im genannten Interview.

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"Sich nicht entscheiden können", UZ vom 11. Mai 2018



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