Vom vierten bis neunten Jahrhundert im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung begaben sich die germanischen Stämme auf die Völkerwanderung nach Westen und Süden. Sie strebten ein besseres Leben an – sie suchten Zuflucht in der römischen Kultur – oder sie flohen vor der Gewalt von Hunnen, deren Grausamkeit nicht hinter der von Islamisten des IS von heute und deren saudischen sowie auch US-amerikanischen Helfern zurückblieb. Manche Menschen sprechen von einer neuen Völkerwanderung, die wir derzeit erleben. Aus purer Not und/oder getrieben von Krieg und Terrorismus kommen monatlich hunderttausende Flüchtlinge in den EU-Bereich. Allein Deutschland muss sich für dieses Jahr auf eine Million Flüchtlinge einstellen, sagte Sigmar Gabriel. Es gibt den Aufschrei: „Wir können diese Massen nicht bewältigen“, kritisieren Gegner der Flüchtlingshilfe.
Doch wo war der Aufschrei, als die Grundlagen für die neue Völkerwanderung gelegt wurden? Als Nato-Staaten die Region zwischen Afghanistan, Somalia und Libyen zur Demokratie bomben wollten und Krieg säten und Flüchtlinge ernteten, wie das schiefe Bild sogar in großen Medien lautet?
Und wo war in Deutschland einst der Aufschrei, als im zweiten Weltkrieg Jahr für Jahr bis zu 2,5 Millionen Menschen als Sklaven in dieses Land gebracht wurden? Wenn Deutschland heute als das reichste Land Europas angesehen werden kann, dann hat das mit dieser Zwangs- und Sklavenarbeit zu tun. Das Wirtschaftswunder beruhte darauf, wie führende Ökonomen feststellten.
Welche Vorgeschichte hatte diese Katastrophe?
Hitler schrieb schon Anfang der zwanziger Jahre in „Mein Kampf“: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.“
Aus den Kolonien und besetzten Ostgebieten wurden dann nicht nur Güter bezogen und der Boden geraubt, es wurden Menschen geraubt. Heinrich Himmler sagte in seiner Posener Rede von 1943, wie man mit den Menschen umzugehen gedachte: „Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und sonst zu niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“
Nachdem die meisten Deutschen bis Kriegsende völlig gleichgültig gegenüber den fremden Sklaven und Ostarbeitern eingestellt waren, obgleich diese hart arbeiteten und viele an der Arbeit starben, blieb die Stellung der Fremden im Nachkriegsdeutschland grundsätzlich unverändert, wenn sie auch besser behandelt wurden, allerdings sehr diskriminiert. Man nannte sie Gastarbeiter, die wieder zu verschwinden hätten, wenn es keine Arbeit mehr für sie gab. Das Asylrecht wurde stark eingeschränkt und die Masse von Flüchtlingen, die hierher kamen, galten lange als Schmarotzer.
Erleben wir nun einen Wandel? Oder nur die alte Heuchelei und sogar Schlimmeres, wie die geplante Asylrechtsänderung ahnen lässt? Angela Merkel wies noch vor einigen Wochen offen eine junge Palästinenserin ab, die um das Bleiberecht bat. Doch nun, nachdem es eine Welle der Hilfsbereitschaft in unserem Land gab, eine Haltung vieler Menschen, die bisher nicht gekannt war, da sagte die Kanzlerin den immer noch vorhandenen Massen von CDU/CSU-Anhängern und -Politikern sowie AfD-Leuten, die mehr oder weniger offen Fremdenhass bekunden: „Wenn wir uns jetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Und: „Wir schaffen es.“
Es gab und gibt rechte Massenbewegungen gegen die Fremden, – aber nun überwiegt die Massenstimmung der Menschlichkeit. In praktischer Solidarität wird Not leidenden Menschen geholfen. Das ist eine starke Zurückweisung von Rassismus und Rechtsextremismus in geradezu historischer Dimension. Die Antirassisten und Antifaschisten haben einen großartigen Erfolg errungen!
Allerdings muss auch betont werden: Der Edelmut hat die Herrschenden und Regierenden auch nicht so gepackt und durchschüttelt, dass sie all ihre Interessen vergäßen. Zur Globalisierung gehört nicht nur der Griff der Kapitalisten nach Märkten und Rohstoffen – sondern auch nach Arbeitskräften, ob in den Heimatländern oder als hierher Geholte. Wenn das Kapital der gegenwärtigen Entwicklung hin zu mehr Aufnahmebereitschaft und Einwanderung so ruhig zusieht, wie es geschieht, hat es auch damit zu tun, die günstigsten Bedingungen für die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zu erlangen – und dies nicht nur in der Ferne, sondern auch im eigenen Land. Man gedenkt, gut ausgebildete und billige Arbeitskräfte ins Land zu holen und hier zu lassen, aber die ungeeigneten schnell wieder loszuwerden.
Die Nazimethoden sind vorbei, aber das Prinzip des Kapitalismus bleibt bestehen: Man will jene die uns nutzen, aber nicht jene, die uns nur ausnutzen, so lautet immer wieder die Devise.
Es gibt zunehmend wieder Angriffe auf Flüchtlinge, Flüchtlingsunterkünfte und auf Helferinnen und Helfer. Deutlich ist aber ein Schwenk in den Massenstimmungen – nun gegen rechts. Niemand kann heute die Haltung der Menschen leugnen, die in so großem Ausmaß tätige Solidarität mit den Flüchtlingen leisten und die gegen die Pegida-Bewegungen auf die Straße gehen. Aber das kann auch sehr schnell umkippen. Friedens- und Antifabewegungen sollten zusammenwirken, und zwar dafür, dass Krieg und die Rüstung sowie Ausbeutung als die wahren Fluchtursachen erkannt werden. Hoffen wir, dass die großen Bewegungen gegen die Nazis nun endlich Bewegungen nicht nur für „Bunt statt Braun“ werden, sondern auch solche gegen den Krieg und das weitere Rüsten und die weitere Militarisierung.