UZ: Laut IG Metall droht vielen Rentnern zukünftig der Absturz in die Massenarmut. Was hat sich so dramatisch verändert?
Heinz Stehr: Wir erleben zur Zeit viele Veränderungen und auch Brüche, die die soziale Verfasstheit der Republik nachhaltig verändern werden. Ein Kernbereich dieser Veränderungen betrifft das Sozialsystem. Mit der Agenda 2010 hat die Schröder/Fischer-Regierung diese Entwicklung beschleunigt. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich weiter zugunsten der Bourgeoisie. Diese Entwicklung hat vor allem für nachwachsende Generationen gravierende Folgen, ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich.
Ein „Standardrentner“ (45 Jahre lang Beiträge gezahlt auf Durchschnittseinkommen) bekommt heute eine Nettorente von1 139 Euro. Sie würde bei 53 Prozent 1 232 Euro betragen und bei 43 Prozent nur noch 1 000 Euro. Die Differenz beträgt 232 Euro, das macht von dem Ausgangsniveau im Jahr 2000 ausgehend eine Senkung von 19 Prozent bis 2030. Da durch die Jahr für Jahr ansteigende nachgelagerte Besteuerung die Steuerabzüge wachsen werden, wird die tatsächliche Absenkung des Rentenniveaus bei deutlich über 23 Prozent liegen.
UZ: Wie wirken sich die Veränderung konkret aus?
Heinz Stehr: Wir Kommunistinnen und Kommunisten haben bei der Einführung der sogenannten „Riester-Rente“ darauf verwiesen, dass es dabei um gravierende Änderungen im Rentensystem geht. Die sogenannte Parität zur Finanzierung der Rente sollte durch Entlastung der Kapitalseite aufgehoben werden. In Wahrheit war „Riester“ eine Umverteilung zu Lasten der Versicherten. Gleichzeitig erhielten die Versicherungskonzerne ein lukratives neues Geschäftsfeld. Der Beschiss für die Versicherten ist heute konkret nachzurechnen. Es war eine Umverteilung zugunsten des Großkapitals.
Die gravierendste Folge ist die grassierende Entwicklung der Altersarmut.
Die Grundsicherung, früher Sozialhilfe genannt, liegt derzeit bei ca. 740 Euro. Das ist der Betrag des absoluten Existenzminimums. Darunter gibt es nur noch Obdachlosigkeit, Betteln, Hunger.
Die Armutszone aber ist viel breiter. Die amtlich festgelegte Armutsgefährdungsschwelle liegt derzeit bei ca. 930 Euro, also 190 Euro höher als die Grundsicherung. Mittlerweile haben 15 Prozent der über 65-Jährigen, das sind über 2,5 Millionen Menschen, ein Einkommen unter dieser Schwelle.
Auch hier gibt es einen rasanten Anstieg der Betroffenen. In den letzten sieben Jahren ist deren Zahl um 50 Prozent gestiegen.
Die Rente wird geplant in insgesamt 30 Jahren bis 2030 um 20 Prozent sinken. Das ist für die aktuell junge Generation eine Katastrophe.
UZ: Welche Forderungen stellen die Senioren der IG Metall?
Heinz Stehr: Wir fordern Sofortmaßnahmen und eine langfristige Sicherung der Sozialversicherung, vor allem der Rente. Die Rente muss auf mindestens 55 Prozent des Nettoverdienstes angehoben werden. Damit der Beitragssatz 2030 nicht auf 24 Prozent steigt, sollen Arbeitnehmer seit 2008 13 bis 14 Prozent zahlen, die Arbeitgeber aber nur 9 bis 10 Prozent. Zusammen werden also seit 2008 bereits 22 bis 24 Prozent für Rentenversicherungsbeiträge ausgegeben! Noch mehr Daten und Fakten sind im Artikel von Fred Schmidt bei isw-muenchen.de nachzulesen.
Daher fordern wir die sofortige Wiederherstellung der sogenannten Parität bei der Rentenfinanzierung. Die Gewinne und Profite der Betriebe und Konzerne ermöglichen dies ohne Probleme.
Bei einer Befragung der Bevölkerung zum Thema: Würden sie eine Partei wählen, die die Renten kürzen will? antworteten 89 Prozent mit Nein; sieben Prozent mit Ja; und vier Prozent mit „Weiß nicht“. (Übrigens waren beim „Nein“ prozentual noch mehr junge Stimmen!)
Eine gestiegene Rente würde Massenarmut bekämpfen, die Kaufkraft erhöhen und ein wenig mehr Gerechtigkeit bringen. Längerfristig ist eine generationsübergreifende gesellschaftliche Bewegung nötig, vor allem durch die DGB-Gewerkschaften, mit dem Ziel, Umverteilung zu Lasten der Profite der Reichen durchzusetzen.
Dazu gehört auch eine Debatte zu einem Rentensystem, das die Würde des Menschen im Alter gewährleistet, auch durch eine neue Einbeziehung vor allem der Besserverdienenden und Reichen in die Finanzierung der Sozialsysteme. Geld ist bekanntlich genug da, nur in den falschen Taschen!
UZ: Welche Aktionsformen habt ihr entwickelt und wie kommen sie an?
Heinz Stehr: ver.di und IG Metall haben auf ihren letzten Gewerkschaftstagen deutlicher als bisher das Problem Rente diskutiert und Aktivität dazu beschlossen. Das ist auch die Grundlage für die Tätigkeit des Seniorenausschusses Unterelbe.
Wir haben eine Rentenpyramide gebaut, die auf ihren vier Seiten die wichtigsten Fakten und Argumente zum Rentenklau darstellt, sie war bereits vielfältig in Einsatz und sorgt für Aufmerksamkeit. Am 22. März hatten wir die Bundestagsabgeordneten zu einer sehr gut besuchten Podiumsdiskussion zum Thema Rente eingeladen.
Unsere Argumente, die Darstellung der Fakten durch Rainer Heyses (IGM) Vortrag haben uns einen deutlichen Punktsieg in der öffentlichen Debatte gebracht. Die Zeitungen im Kreis Pinneberg brachten einen für uns positiven, sehr ausführlichen Bericht. Wir werden in allen Städten Infostände mit der Pyramide organisieren und sind ebenfalls auf der 1.-Mai-Kundgebung in Elmshorn präsent.
Wir haben gemeinsam mit anderen Arbeitskreisen Seniorenpolitik der IGM und von ver.di Unterschriften in Schleswig–Holstein gesammelt und zum Tag der Senioren (1. Oktober) an das Bundestagspräsidium in Berlin übergeben. Bis zu den Bundestagswahlen gestalten wir unsere Kampagne. „Wer Rentner quält, wird nicht gewählt!“
Mir greift der Bezug auf Wahlen zu kurz, andererseits ist die Losung griffig und knüpft am Massenbewusstsein an. Die Resonanz in der Bevölkerung ist deutlich besser als zu anderen politischen Themen. „Luft nach oben“ sehen wir in der Ansprache der Generationen, die arbeiten oder erwerbslos sind.
Es ist uns klar, das die Gesamtbewegung noch viel breiter und umfassender werden muss, erste Kontakte zu Seniorenbeiträgen in Kommunen sollen entwickelt werden. Letztes Beispiel für gelungene Öffentlichkeitsarbeit war ein Leserbrief in den Elmshorner Nachrichten von mir gegen die Forderung der Jungen Union, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und die Alterspyramide als Schuldigen für die Finanzprobleme der Rente darzustellen. Wir müssen in einem längeren Prozess die Meinungsführerschaft in diesem wichtigen sozialpolitischen Arbeitsfeld erreichen. Das Problem Rente ist ein gesellschaftliches Problem des Kapitalismus, es geht um Zukunftsfragen.
Das ist auch für die politische Debatte in der Gewerkschaftsbewegung sehr wichtig.