Der Blick auf das Leid in Syrien bleibt selektiv. Auf Antrag der Grünen hat sich der Bundestag in einer aktuellen Stunde mit dem Leid der Menschen in dem zerrissenen Land beschäftigt. Nicht mit dem Leid aller Syrer, sondern vorrangig mit dem der Bewohner von Aleppo. Auch nicht allen Menschen in Aleppo galt die Sorge, sondern vornehmlich den im Osten der Millionenmetropole Ausharrenden. Die Wahrnehmung folgt der medialen Darstellung des Konflikts, der zufolge es „brutale Angriffe“ des „Assad-Regimes“ auf die wehrlose Zivilbevölkerung Ost-Aleppos gibt, aber nie Raketenbeschuss aus den von islamistischen Terroristen besetzten Stadtvierteln auf die Bewohner im Westteil.
Völlig negiert in der Syrien-Debatte werden die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen, die von der EU und den USA verhängt wurden. Die UNO spricht im Zusammenhang mit Syrien von der „größten humanitären Notsituation seit dem Zweiten Weltkrieg“. Insbesondere Hilfe im Gesundheitssektor wird durch die kollektiven Strafmaßnahmen der NATO-Staaten behindert. Im Mai hatten kirchliche Würdenträger aus Syrien, unter anderem aus Aleppo, in einem Brandbrief an die EU auf die dramatischen Folgen der Sanktionen hingewiesen. Diese hätten dazu beigetragen, „die syrische Gesellschaft zu zerstören“. Das Internetportal „End The Sanctions on Syria“ meldet: „701 von 1 921 syrischen Gesundheitszentren wurden durch Terroranschläge komplett zerstört. Der Wiederaufbau dieser Zentren wurde durch die Sanktionen der EU und der USA verzögert. Die Sanktionen hatten ohnehin ‚tiefe Spuren im Gesundheitssystem‘ hinterlassen (…) Das beinhaltet die Blockade des Zugangs zu Arzneimitteln, medizinischen Geräten und zum Verkehr und zur Kommunikation.“ Das britische Medizinerjournal „The Lancet“, das sich zuvor ausführlich mit den Folgen der langjährigen Irak-Sanktionen befasst hatte, hatte bereits im Mai 2015 berichtet: „Die Kosten für Grundnahrungsmittel sind seit 2010 um das Sechsfache gestiegen, obwohl es Abweichungen in den einzelnen Regionen gibt. Mit Ausnahme von Arzneimitteln für Krebs und Diabetes war Syrien vor dem Krieg in Bezug auf die Medizinproduktion 95 Prozent autark. Dies ist praktisch wie alle Krankenhäuser und primären Gesundheitszentren zusammengebrochen. Die wirtschaftlichen Sanktionen haben nicht zum Sturz des Präsidenten geführt.“
Das Internetportal „The Intercept“ hatte unlängst auf einen 40-seitigen Bericht aufmerksam gemacht, den die „Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien“ (ESCWA) der Vereinten Nationen in Auftrag gegeben hatte. Die Sanktionen bestrafen jeden einfachen Syrer, ist darin zu lesen. So dürfen keine Produkte, die zu mehr als einem Zehntel aus in den USA hergestellten Substanzen bestehen, nach Syrien geliefert werden – das betrifft Medikamente wie landwirtschaftliche Geräte. Geldtransfers, unabdingbar für den An- und Verkauf von Produkten, sind verboten. In einer internen E-Mail hat ein hochrangiger UN-Beamter die Sanktionen als „Hauptgrund“ für den katastrophalen Zustand des syrischen Gesundheitssystems bezeichnet. Die Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld hatte im vergangenen Monat erinnert: „Bis 2011 konnte Syrien seine Bevölkerung preisgünstig mit Medikamenten aus der eigenen Herstellung versorgen. Die pharmazeutische Industrie des Landes konnte 91 Prozent der nationalen medizinischen Bedürfnisse abdecken (…). Die Herstellung lizenzierter Produkte nahm jährlich um fünf Prozent zu, ein Beleg für die gute internationale Kooperation im Gesundheitssektor. 2010 wurden in syrischen Fabriken 6 895 pharmazeutische Produkte hergestellt. Das Land konnte Medikamente in andere Länder wie Irak oder Jemen exportieren. Importiert werden mussten indes Krebsmedikamente, Blutsubstanzen und Impfstoffe. 2010 gab es nach Angaben der zentralen syrischen Statistikbehörde 70 pharmazeutische Fabriken. 33 Monate nach Beginn der ‚syrischen Revolution‘ 2011 war die gesamte pharmazeutische Industrie Syriens sabotiert und zerstört.“
Derlei Fakten fechten die Befürworter von Sanktionen als vermeintlich „zivile Alternative“ zum Bombenkrieg nicht an. Nachdem Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag, mit Blick auf die zerstörerischen Folgen gerade im syrischen Gesundheitssektor die Aufhebung der Wirtschaftsblockade gefordert hatte, konterte Ute Finckh-Krämer von der SPD allen Ernstes: „Ich habe mir eben gerade noch einmal die Sanktionsliste der EU für Syrien angeschaut: Darauf stehen weder Lebensmittel noch Medikamente.“ Das Protokoll vermerkt an der Stelle „Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen“.