In der bürgerlichen Vorstellungswelt ist die kommunale Selbstverwaltung eine feine Sache. Die Menschen entscheiden selbst über ihr unmittelbares Umfeld, gestalten die eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen gemeinsam. Sie sorgen für ausreichende Grün- und Erholungsflächen, beratschlagen über die Strukturen, in denen ihre Kinder aufwachsen und in denen die Alten den Lebensabend verbringen. Dabei arbeiten die lokalen Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger Hand in Hand – zum Wohle der Gemeinde. „Suchet der Stadt Bestes“, oder so ähnlich.
Dass es anders ist, muss nicht lange erklärt werden. Die Erzählung von der „Stadtgesellschaft“, die wahlweise „an einem Strang zieht“ oder „in einem Boot sitzt“, ist Ausdruck einer verschleiernden Ideologie, die eine klassenneutrale Selbstverwaltung vorgaukelt. Ein kurzer Blick in die Geschichte hilft, um zu einer differenzierten Betrachtung zu kommen. Als 1808 die Preußische Städteordnung erlassen wurde, waren die Sitze in den Stadträten den Vermögenden und Grundbesitzern, den Gewerbetreibenden und anderen Vertretern der zeitgenössischen Eliten zugedacht. Gleichwohl stellte diese Form der Kommunalverwaltung einen objektiven Fortschritt dar. Die sich verändernden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse schlugen sich im Verwaltungsrecht nieder. Das aufstrebende Bürgertum konnte seine lokalen Angelegenheiten nun selbst regeln und tat dies natürlich im eigenen Sinne. Im Laufe der Zeit durchlebten die kommunalen Gremien viele Veränderungen: von der Demokratisierung mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bis hin zur Abschaffung der Selbstverwaltung in der Nazizeit.
Und heute? Heute wird gerne von den Kommunen als „Keimzellen der Demokratie“ gesprochen. Doch selbst für bürgerliche Demokratiemaßstäbe ist das ein reines Lippenbekenntnis. Denn in dem gleichen Maße, in denen die Handlungsspielräume der Räte eingeschränkt werden, nimmt die Bedeutung von Kommunalwahlen ab. Die Gemeindefinanzen spielen dabei eine zentrale Rolle. Wenn nicht mehr genug Geld da ist, um frei zu investieren und eigene Einrichtungen zu betreiben, dann ist die kommunale Selbstverwaltung nur noch eine formale Hülle. Vielerorts ist dies längst der Fall. Im Sinne des Grundgesetzes ist dieser Zustand verfassungswidrig, wie das Bundesverwaltungsgericht schon im Jahr 2013 urteilte. In dem Beschluss heißt es, dass die Kommunen ausreichend Finanzmittel für ihre Pflichtaufgaben haben müssten und „darüber hinaus noch über eine ‚freie Spitze‘ verfügen, um zusätzlich freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben“ zu übernehmen. Nur dann können die gewählten Räte und Bürgermeister schließlich überhaupt irgendetwas entscheiden.
Dass dafür grundsätzliche Reformen notwendig sind, ist seit Langem bekannt. Doch die Bundesregierung zeigt kein Interesse an einer Stärkung der Selbstverwaltung. Im Gegenteil: Auch in diesem Jahr wurden Gesetze verabschiedet, die den Handlungsspielraum weiter einengen. Man denke an das unterfinanzierte „Deutschlandticket“ oder an die kommenden Änderungen bei der Einkommensteuer, die die Kommunen Milliarden kosten werden. Dieses Vorgehen hat System. Das Kapital stört sich an selbstständigen Kommunen und arbeitet seit Jahren daran, die kommunale Handlungsfähigkeit einzuschränken. Dadurch wird der Privatisierungsdruck erhöht werden (siehe Teil 5 dieser Serie in UZ vom 18. November). Aber es geht auch um öffentliche Gelder. Zwei Drittel der staatlichen Investitionen werden in Deutschland von den Kommunen getätigt. Die Frage: Wer entscheidet darüber, wofür dieses Geld ausgegeben wird? – ist von elementarer Bedeutung. An dieser Stelle kommen die unzähligen Förderprogramme ins Spiel. Im Jahr 2021 machten „zweckgebundene Zuweisungen“ 18,4 Prozent (West) beziehungsweise 22,1 Prozent (Ost) der kommunalen Gesamteinnahmen aus. 2012 waren es noch 12,4 Prozent (West) und 16,8 Prozent (Ost) gewesen. Der Anteil an kommunalen Mitteln mit Zweckbindung nimmt also deutlich zu. Viele Förderungen verfolgen das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit oder den Wirtschaftsstandort zu stärken. Die Kombination von Geldmangel und Förderpolitik leitet das öffentliche Geld sanft in die gewünschten Bahnen, in den privaten Markt oder in eine wirtschaftsfreundliche Infrastruktur. Geschenkt gibt es dabei nichts. Für die meisten Förderprogramme müssen die Gemeinden einen Eigenanteil beisteuern, der gerade in ärmeren Städten zu finanzieller Überforderung führen kann.
Die bürgerliche Kommunalpolitik ist von der Akzeptanz ihrer Rahmenbedingungen geprägt. Deshalb sind Förderprogramme beliebt: Artig wird der Landesregierung oder einem anderen Fördermittelgeber gedankt, wenn das Geld fließt. Viele Gemeinden betreiben fast ausschließlich „Projektpolitik“ – halten also Ausschau nach förderfähigen Aufgaben und setzen diese dann um. Mit dem Verfolgen selbstbestimmter Zwecke hat dies nichts zu tun, wohl aber mit der Einordnung in die Agenda des in Brüssel und Berlin vertretenen Kapitals. Eine demokratische Selbstverwaltung mag es de jure geben, de facto wird sie schleichend ausgehöhlt.