Die Geschichtslüge der Bundesrepublik als identitätsstiftende Perspektive? Ein Bundesprogramm für die Jugend

Selbstverständlich antitotalitär

Von Ludwig Elm

Das Dreimänner-Kollegium – Ministerpräsident, Landtagspräsident, Staatsratspräsident – ist im Februar 1933 zusammengetreten, um die Auflösung des preußischen Landtags zu beschließen: „… die Verhandlungen verliefen nicht nur in der sachlichsten und höflichsten Form, ich habe auch bei ihnen ausdrücklich erklärt, dass nach meiner Meinung eine so große Partei wie die NSDAP unbedingt führend in der Regierung vertreten sein müsse.“

Konrad Adenauer (10. August 1934, Brief an den Preußischen Minister des Innern)

Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben Anfang April 2019 den Antrag „Bundesprogramm ‚Jugend erinnert’’ – Wissensvermittlung über Wirkung und Folgen von Diktatur und Gewaltherrschaft stärken“ im Bundestag eingebracht. (Drucksache 19/8942) Bezogen auf den Koalitionsvertrag vom Februar 2018 sei dieses Thema „Teil unseres nationalen Selbstverständnisses“ und weise dem „Gedenken an die beiden deutschen Diktaturen“ eine Schlüsselrolle zu. Diese Orientierung, die Zuwendung an die Jugend – also künftige Geschichtsbilder – sowie die international verstärkte geschichtspolitische Wirksamkeit verleihen dem Dokument einen Rang, der eine grundsätzliche Auseinandersetzung herausfordert. Am 5. April fand die erste Lesung im Bundestag statt; die Überweisung an acht Ausschüsse – darunter der Auswärtige Ausschuss – unterstreicht die weitreichenden Ambitionen.

Zwei Diktaturen

Mehr als vierzig Jahre gab es keine Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Die jeweiligen Koalitionsregierungen und parlamentarischen Mehrheiten hatten dafür in den Geschehnissen der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges sowie den riesigen Opfergruppen im eigenen Land und in vielen Ländern Europas jahrzehntelang keinen Anlass erkennen können. Das begann mit dem einschlägigen Konsens in der Mitte-Rechts-Koalition im September 1949. Man wollte wohl auch den in Führungsebenen der Gesellschaft verbliebenen oder reintegrierten Tätern der Gewaltherrschaft nicht zu nahe treten oder verhindern, dass verdrängte, da unliebsame, Sachverhalte öffentlich werden. Der erste parlamentarische Antrag zugunsten eines Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus lag dem Bundestag 50 Jahre nach der Befreiung von der Gruppe der PDS vor.

Die Zwänge für die politischen Führungskreise der BRD – nicht zuletzt auf internationaler Ebene – zugunsten offiziellen Gedenkens an die Opfer vieler Länder führten seit Beginn der neunziger Jahre zu einem Wandel. Die gleichzeitig beginnende delegitimierende Abrechnung mit der DDR wurde genutzt, um durch die Verknüpfung die Relativierung der NS-Verbrechen modifiziert fortzusetzen: Mit der ersten Gedenkstättenkonzeption der Bundesrepublik wurde 1999 die Formel des Erinnerns und Gedenkens an „zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer“ zur Leitidee erhoben. Seither gedeiht sie – finanziell, personell und medial massiv protegiert – als Prunkstück des „antitotalitären Konsenses“. Für dieses Konzept wird die DDR im Antrag und in Plenarbeiträgen erneut einseitig negativ und feindselig dargestellt.

Die historisch, wissenschaftlich und politisch-moralisch unhaltbare Formel drückt die zentrale Geschichtslüge der 1990 vergrößerten und längst in des­truktiven Veränderungen begriffenen Bundesrepublik aus. Ihre Ursprünge liegen im Herbst 1949 und können im damaligen Umgang mit jüngster Vergangenheit besichtigt werden: Straffreiheitsgesetz, kalte Amnestie, Gnadenerlasse und Haftverschonung, Einstellung von Ermittlungen, 131er-Gesetz 1951, frühestmögliche Verjährungen – zugleich: aggressiver Antikommunismus und Ächtung des Antifaschismus, Anfeindung der „Sowjetzone“ und deren maximale Schädigung sowie ab Ende 1949 Schritte zur Wiederaufrüstung. Die GründerInnen und Führungskräfte der beiden deutschen Staaten rekrutierten sich überwiegend je aus den politischen Lagern am Ende der Weimarer Republik und beim Übergang in die Diktatur: Einerseits die sich Wegduckenden, Mitläufer, Gehilfen und Täter sowie andererseits die Widerständigen, Verfolgten und jene, die das Inferno überlebten.

Der Verbrecherstaat

Karl Jaspers äußerte 1965 im Gespräch mit Rudolf Augstein vom „Spiegel“: „Der entscheidende Punkt ist, ob man anerkennt: der Nazistaat war ein Verbrecherstaat, nicht ein Staat, der auch Verbrechen begeht. Ein Verbrecherstaat ist ein solcher, der im Prinzip keine Rechtsordnung stiftet und anerkennt. … Sein Prinzip bezeugt er durch Ausrottung von Völkern, die gemäß seiner Entscheidung keine Daseinsberechtigung haben sollen. Der Grundsatz: Der Nazistaat war ein Verbrecherstaat, hat die Konsequenzen, ohne deren Klärung all diese Probleme, von denen wir reden, meines Erachtens nicht klarwerden können.“ Jeder Mensch in Deutschland konnte das wissen und haftete daher zumindest politisch mit. „Den Verbrecherstaat als Verbrecherstaat klar vor Augen zu haben, ist die Voraussetzung jeder weiteren Argumentation. Hier handelt es sich nicht um Meinungsverschiedenheit. Hier wirkt ein Kampf im staatlich-sittlichen Grundwillen selber.“ Aus diesem Grundsatz folge „der uneingeschränkte Wille zum Abbruch der Kontinuität zu dem Verbrecherstaat, die Erkenntnis und der Wille zur Neugründung“ als Voraussetzung für die Zukunft.

Die faschistische Diktatur zwischen 1933 und 1945 wurde durch Karl Jaspers damit in gültiger Weise charakterisiert. Es ist die treffendste Bezeichnung. Die bundesrepublikanische Rechte – im politischen System seit 1949 prägend durch die Unionsparteien repräsentiert – war nie bereit, diese Jasperssche Klarstellung und ihre radikalen Konsequenzen anzuerkennen. Das schloss auch ihr entgegengesetzter Weg der Restauration und Schlussstrichpolitik aus. An die Stelle der historisch-politischen Aufklärung und einen wirklichen Neubeginn trat die Konjunktur eines militant antikommunistisch imprägnierten Totalitarismuskonzepts. Es verband eine halbherzige Distanzierung von der NS-Diktatur damit, vorrangig das Bild vom linken Hauptfeind zu wahren, zunächst vor allem in Gestalt der KPD im eigenen Herrschaftsbereich sowie der DDR und der UdSSR mit ihren Verbündeten nach außen.

Es gab zuvor eine Staatlichkeit, die dem Begriff des Verbrecherstaates nahekam: Das Regime Wilhelms II., Deutscher Kaiser 1888 bis 1918, und in dieser Zeitspanne insbesondere die menschenverachtende Militärdiktatur von 1914 bis 1918. Es stimmt nachdenklich, dass sie in den Erzählungen der herrschenden Geschichtsdeuter über „deutsche Diktaturen“ nicht erwähnt wird. Daran haben auch beachtliche Beiträge der letzten Jahre anlässlich der Rückblicke nach hundert Jahren nichts geändert. Offenbar soll vom geschichtspolitischen Hauptanliegen nicht abgelenkt werden.

Geschichtsfälschung pur

Die Parallelisierung von faschistischer Barbarei und DDR in der Formel von den „zwei deutschen Diktaturen“ ist die gröbste und aggressivste Version der herrschenden Geschichtsideologie. Ihr dient die Aussage im Antrag vom 2. April: „Die DDR war ein Willkür- und Unrechtsstaat.“ Die längst von namhaften Rechtswissenschaftlern benannte rechtswissenschaftliche Unhaltbarkeit und die delegitimierende politische Funktion von „Unrechtsstaat“ bleiben unbeachtet. Es soll eine Richtschnur für die Vorhaben des Erinnerns in diesem Land und darüber hinaus sein. Zwar wird erklärt, es müsse jeder „Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus“ entgegengetreten werden. Deren Kern wird jedoch mit dem „Diktaturenvergleich“ bekräftigt und soll gültig bleiben. Durchgängig orientiert der Antrag auf „das Gedenken sowohl an die NS-Terrorherrschaft als auch an die SED-Diktatur“. Über wiederholtes massenhaftes Unrecht in der Geschichte der Bundesrepublik und dessen Opfer wird kein Wort verloren; bereits der Titel des Antrags grenzt die Erinnerungspolitik vorsätzlich ein.

Delegitimierung der DDR

Nach dem Scheitern von Bemühungen, das NS-Verbrechertum zu verdrängen und zu historisieren, wird seit 1990 mit einer finanziell, personell und medial aufgeblähten „Aufarbeitung“ als definitiver Delegitimierung und Denunziation der DDR versucht, die negative Singularität des Verbrecherstaates zu relativieren. Die Zusammenfassung der beiden gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen und politischen Systeme unterstellt eine Wesensgleichheit, die es nie gab und nicht geben konnte. Sie ist weder historisch noch sozioökonomisch, programmatisch, politisch oder geistig-kulturell gegeben oder nachweisbar. Faschismus bleibt ein vergiftetes Urgewächs des Kapitalismus, dem historischen Gegner sozialistischer Ideen und Bestrebungen.

Den eigenen apologetischen Bedürfnissen folgend, rückt der rechtsgerichtete antitotalitäre Blick ausgewählte Merkmale der politischen Strukturen und Mechanismen in den Mittelpunkt. Die sind im Fall legitimer Kritik an der DDR als autoritär und antiliberal, auch patriarchalisch und – im sehr weiten Sinn – konservativ hinreichend zu benennen. Sie sind – bei allen Unterschieden – analogen Tendenzen in bürgerlich-parlamentarischen Systemen oder sonstigen bürgerlich-aristokratischen Herrschaftsformen ähnlich und bedingt vergleichbar. Keinesfalls rechtfertigen sie, Gleichheitszeichen zu Systemen faschistischen Terrors und ihrer nicht nur Menschen-, sondern gar Menschheits-Feindlichkeit, zu konstruieren und zu behaupten.

Einige Momente in den Geschichtsfälschungen, die insbesondere Parlamentarier von der Union bis zur AfD mit Beifall durchwinken, sind:

• Die Kennzeichnung der NS-Diktatur als Verbrecherstaat, die ihren singulären Charakter sowie die sich daraus ergebenden Folgerungen bekräftigt, wird aufgegeben;

• der längst erwiesene Wesenszusammenhang zwischen der ab 1919 aufkommenden faschistischen Bewegung mit vorangegangenen und gleichzeitigen konservativ-nationalistischen, militaristischen, imperialen sowie rassistisch-antisemitischen Strömungen, Bewegungen und Organisationen – als ihren Vorläufern, Verbündeten und politisch-ideologischen Quellen – wird verdrängt oder marginalisiert;

• die Kontinuität der Gesellschaft, ihrer klassenmäßigen Schichtungen und Hierarchien sowie politisch-ideologischen Grundstrukturen seit dem Kaiserreich über die Zäsuren von 1918/19, 1933 und 1945 hinweg bis in die Gegenwart wird mittels des Totalitarismus-Dogmas vernachlässigt oder ausgeklammert;

• der Grad des Zusammenspiels des breiten und heterogenen rechten Spektrums in der Krise von 1932/33 wird kaum erwähnt oder in seiner Tragweite verharmlost, beispielsweise bei Parteien wie Zentrum, Bayerischer Volkspartei (BVP) und Deutscher Staatspartei – den hauptsächlichen Vorläufern von CDU, CSU und FDP. Das gilt für deren Wahl des Hitler-Kumpanen Hermann Göring zum Präsidenten des Reichstags im Juli und November 1932 – abgestimmt mit der Nazi-Fraktion im ersten Wahlgang. Es folgte die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz für Hitler am 23. März 1933 sowie das Einbringen der verlogenen „Friedensresolution“ mit den Faschisten am 17. Mai 1933; schließlich die Selbstauf­lösung der bürgerlichen Parteien – außer NSDAP – Anfang Juli 1933 mit dem Appell an Mitglieder und Wähler, die „nationale Revolution“ unter dem Führer zu unterstützen;

• die Schlussstrichpolitik ab 1949 sowie die sozioökonomischen, personellen und politisch-ideologischen Kontinuitäten über 1945 hinweg, in denen die überkommene und wiederauflebende Verwandtschaft der konservativen Grundströmung mit den extremen Flügeln und Formationen der Rechten erneut sichtbar wurde.

Der Antrag „Jugend erinnert“ soll zu Jubiläen von Ereignissen der Jahre 1939, 1989 und 1990 die antikommunistischen und auf volksgemeinschaftliche Indoktrination gerichteten geschichtsideologischen Bemühungen aktualisieren sowie längerfristig für nachwachsende Generationen bei zunehmender internationaler Ausstrahlung gewährleisten. Das eigentliche Anliegen ist, die labile historisch-politische Legitimation der Bundesrepublik zu stabilisieren, Belastungen ihrer Herkunft mit einem zukunftsorientierten und machtbewussten Selbstverständnis zu bewältigen und für die erstrebte wachsende internationale Rolle in Europa und der Welt wiederum neben materiellen Waffen auch mit solchen der Ideologie aufzurüsten.

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"Selbstverständlich antitotalitär", UZ vom 10. Mai 2019



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