Bert Brechts Bearbeitung des Manifests der Kommunistischen Partei in Versform

… sein Name ist Kommunismus

Von Jenny Farrel

Vor 170 Jahren, im Februar 1848, veröffentlichten Marx und Engels das „Manifest der Kommunistischen Partei“ (KM). Bis heute ist dies ein bemerkenswerter Text, die klare und überzeugende Darlegung von Klasse und Geschichte als Klassenkampf.

Fast hundert Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, am 11. Februar 1945, notierte Bertolt Brecht in seinem Arbeitsjournal den Plan, diesen Text als Lehrgedicht in Verse umzuschreiben. Er lebte zu dieser Zeit noch im Exil in Santa Monica. Das Ende des Zweiten Weltkriegs rückte näher und mit ihm die Frage nach der Zukunft Deutschlands. Am 10. März 1945 notierte er in jenem Journal: „zwischen dem lehrgedicht und den schrecklichen zeitungsberichten aus deutschland. ruinen und kein lebenszeichen von den arbeitern“.

Brecht hoffte, den Originaltext mit „neuer, bewaffneter autorität zu versehen“. Das vergangene Jahrhundert hatte tiefere Krisen und zwei grauenhafte Kriege erfahren; es hatte auch zum ersten Mal in der Geschichte eine erfolgreiche Revolution erlebt, in der das Proletariat die Macht ergriffen hatte. Gerüstet mit dieser historischen Perspektive, dem Bewusstsein auch späterer marxistischer Theorie und der Notwendigkeit, die Idee des Kommunismus als einzige Alternative zur Barbarei wiederzubeleben, entschied Brecht, sich dieser spektakulären Herausforderung zu stellen.

Mit Blick auf Lukrez‘ Lehrgedicht „De rerum natura“ (Über die Natur der Dinge) und der zusätzlichen Herausforderung eines in Hexameter gefassten Textes ersann er die Idee, ein solches „Über die Unnatur der bürgerlichen Verhältnisse“ zu schreiben. Kernstück der vier geplanten Gesänge sollten die beiden mittleren mit einer Versifizierung des Kommunistischen Manifests sein. Darüber hinaus war ein erster Gesang über die Schwierigkeiten, sich in der Natur der Gesellschaft zurechtzufinden gedacht, und ein vierter über die ungeheuer gesteigerte Barbarisierung. Brecht schrieb den zweiten Gesang zuerst und verdichtete damit das erste Kapitel des KM. An diesem Teil hat Brecht jahrelang immer wieder gearbeitet. Doch veröffentlichte er ihn nicht zu Lebzeiten; das Gedicht blieb ein Fragment. Dennoch bleibt sein „Das Manifest“ eindrucksvoll und unvergesslich.

In seiner Poetisierung folgt Brecht dem Originaltext, wobei er häufig auch dessen Begriffe und berühmte Formulierungen verwendet, einige davon jedoch im Interesse der dramatischen Wirkung verändert und Tatsachen auch modernisiert.

Nehmen wir den Anfang: Das KM beginnt: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“. Brecht verwendet in der Eröffnungszeile den Satz „… geht ein Gespenst um“ und personifiziert es wunderbar als eine lebendige Gegenwart an verschiedenen Orten und in verschiedenen Situationen auf der ganzen Welt. Der Name des Gespenstes wird bis zum Ende der Strophe enthalten und schafft so einen Spannungsbogen, das Wort „Kommunismus“ dramatisch betonend.

Kriege zertrümmern die Welt und im

  Trümmerfeld geht ein Gespenst um.

Nicht geboren im Krieg, auch

  im Frieden gesichtet, seit lange.

Schrecklich den Herrschenden, aber

  den Kindern der Vorstädte freundlich.

Lugend in ärmlicher Küche

  kopfschüttelnd in halbleere Speisen.

Abpassend dann die Erschöpften am

  Gatter der Gruben und Werften.

Freunde besuchend im Kerker,

  passierend dort ohne Passierschein.

Selbst in Kontoren gesehn, selbst

   gehört in den Hörsälen, zeitweis

Riesige Tanks besteigend und fliegend

  in tödlichen Bombern.

Redend in vielerlei Sprachen, in allen.

  Und schweigend in vielen.

Ehrengast in den Elendsquartieren

  und Furcht der Paläste

Ewig zu bleiben gekommen:

  sein Name ist Kommunismus.

Neben seinem den arbeitenden Menschen freundlichen und stets präsenten Charakter betont Brecht die Angst der Herrschenden vor dem Gespenst sowie dessen Bereitschaft, sich zu verteidigen. Die neue Weltsituation tritt in das Bild, wenn sich das Gespenst – unter Bezugnahme auf die sowjetische Armee im Zweiten Weltkrieg – nötigerweise – auch in Panzer und todbringende Bomber begibt. Der Unterschied zwischen dem Originaltext und seiner poetischen Übertragung zeigt sich in der Sanftheit, mit der Brecht die Tätigkeiten des Gespenstes beschreibt: Handlungen treten an die Stelle der theoretischen Erklärung. Dies ist eine Besonderheit von Kunst und Poesie und kein Urteil über den besseren Text. Kunst und Poesie fangen das Wesen der Dinge, der Gesellschaft, in spezifischen, individualisierten Bildern ein. Ein Text, der die Gesetze der Geschichte und der Gesellschaft umreißt und gelegentlich seine Argumentation mit Hinweisen auf die Kunst illustriert, muss auf einer anderen, abstrakteren Ebene operieren.

Brecht weicht auch dadurch vom Original ab, dass er seine Leser direkt anspricht. Er schafft dadurch Vertrautheit, Vertrauen und etabliert den lyrischen Sprecher als Mittler zwischen dem Leser und den Begründern des wissenschaftlichen Kommunismus:

Viel davon hörtet ihr. Dies aber ist,

  was die Klassiker sagen.

Lest ihr Geschichte, so lest ihr von

  Taten enormer Personen;

Ihrem Gestirn, sich erhebend und

  fallend; vom Zug ihrer Heere;

Oder von Glanz und Zerstörung der

  Reiche.

Ein zentrales Thema im KM sind die Produktionsweisen und die Produktion selbst. Während Marx die objektiven Gesetze der kapitalistischen Produktion beschreibt, bringt Brecht Naturgesetze in seine Bildsprache ein. Marx präsentiert Fakten und Ergebnisse, Brecht konzentriert sich auf Tätigkeit:

Niemals zuvor ward entfesselt ein

  solcher Rausch der Erzeugung

Wie ihn die Bourgeoisie in der Zeit

  ihrer Herrschaft entfacht hat

Die die Natur unterwarf, die

  elektrische schuf und die Dampf-Kraft

Schiffbar machte die Ströme und

  riesige Weltteile urbar.

Nie zuvor hat die Menschheit geahnt,

  dass schlummernd im Schoß ihr

Solche Befreiungen waren und solche

  erzeugenden Kräfte.

/…/

So also seht ihr, wie hurrikangleich

  Produktivkräfte aufstehn

Und Produktionsweisen, alte, für ewig

  gehaltne, zertrümmern

Kapitalistische Überproduktion führt zu ihrer Verkehrung, der Zerstörung von Waren:

Hunger von alters plagte die Welt,

  wenn die Kornkammer leer war

Jetzt aber, keiner versteht es, hungern

  wir, wenn sie zu voll ist.

Nichts in der Speise mehr finden die

  Mütter, die Mäulchen zu füllen

Und hinter Mauern, in turmhohen

  Speichern gehäuft, fault das Korn weg.

Irgendwo türmt sich in Ballen das

  Tuch, aber frierend durchzieht die

Lumpenverhüllte Familie, von heute

  auf morgen geworfen

Aus dem gemieteten Heim, die

  Wohnviertel ohne Bewohner.

Er veranschaulicht den Warencharakter jeder Arbeit:

So wie der Kapitalist seine Ware

  verkauft, so verkauft denn

Auch der Prolet seine Ware, die

  Arbeitskraft; unterworfen

Darum dem Wettbewerb und der

  ewigen Schwankung des Marktes.

Zubehör nur der Maschine, verkauft

  er den einfachen Handgriff

Kostend nur, was sein Unterhalt

  kostet und als er benötigt

Fortzupflanzen und aufzuziehn seine

  nützliche Rasse

Da ja der Preis der Arbeitskraft wie

  der Preis jeder anderen

Ware entspricht dem Preis der

  Gestehung.

Brecht hebt hervor, wie die kapitalistische Produktion entmenschlicht:

Anstatt sich ernähren zu lassen

Von ihrem Proletariat, muss sie dieses

  ernähren. Sie braucht es

Kann es jedoch nicht gebrauchen und

  macht es doch größer und größer.

Und es obsiegt die Entmenschtheit und

  zeichnet so Opfer wie Opfrer.

Er greift auch auf andere, spätere Arbeiten von Marx und Engels zurück, wie z. B. die Theorie der zyklischen Krisen und des Warenfetischismus und fügt diese seinem „Das Manifest“ hinzu. Krisen werden personifiziert.

Riesige Krisen, in zyklischer

  Wiederkehr, gleichend enormen

Sichtlos tappenden Händen, greifen

  und drosseln den Handel

Schütteln in schweigender Wut

  Produktionsstätte, Märkte und Heime.

/…/

Nicht zum Wohnen bestimmt ist das

  Haus, das Tuch nicht zum Kleiden

Noch ist das Brot nur zum Essen

  bestimmt; Gewinn soll es tragen.

Wenn das Erzeugnis jedoch nur

  gebraucht und nicht auch gekauft wird

Weil der Lohn des Erzeugers zu klein

  ist – und macht man ihn größer

Lohnt es nicht mehr, das Zeug

  erzeugen zu lassen –, wozu dann

  noch Hände

Mieten? Sie müssen doch mehr an der

  Werkbank leisten als eben

Nur ihren Mann und die Seinen

  nähren und kleiden und hausen

Wenn da Profit sein soll; nur –

  wo dann hin mit der Ware? Und also

Wolle und Weizen, Kaffee und Früchte

  und Fische und Schweine

Alles ins Feuer geopfert, den Gott des

  Profits zu erweichen!

Haufen von Maschinerie, das

  Werkzeug von Arbeiterheeren

Schiffswerft und Wollkämmereien,

  Hochöfen, Sägewerke, Gruben

Alles zerstückt und geopfert, den Gott

  des Profits zu erweichen!

Freilich ihr Gott des Profits ist mit

  Blindheit geschlagen. Die Opfer

Sieht er nicht. Er ist unwissend.

  Beratend die Gläubigen, murmelt

Unverständliches er.

Solch spezifische Bilder werden einprägsamer durch den Einbezug auch nichtvisueller Sinne. „Wolle und Weizen, Kaffee und Früchte und Fische und Schweine“ sieht der Leser nicht nur, Tastsinn, Geruch, Geschmack sind angesprochen und tragen das Ihre dazu bei, den visuellen Endruck zu vertiefen. Hinzu kommen die kontrastierenden Farben, Formen, Oberflächen, Konsistenzen und Beweglichkeit. „Schiffswerft und Wollkämmereien, Hochöfen, Sägewerke, Gruben“ tun ein Weiteres. Feurig rote Hitze kon­trastiert mit der Kühle und blasseren Farbe des Meeres, die Dunkelheit und Tiefe der Gruben mit der Weite des Meeres, die Wollkämmereien mit ihren arbeitenden Frauen und Kindern tragen andere industrielle Geräusche bei.

Die Bildsprache des Kampfes durchzieht das KM und ist integraler Bestandteil von Brechts „Das Manifest“:

Den Klassikern aber

Ist die Geschichte zuvörderst

  Geschichte der Kämpfe der Klassen.

Denn sie sehen in Klassen geteilt und

  kämpfend die Völker

In ihrem Innern. Patrizier und Ritter,

  Plebejer und Sklaven

Adlige, Bauern und Handwerker,

  heut Proletarier und Bourgeois

Halten sie jeweils den riesigen

  Haushalt im Gang, der Erzeugung

Und der Verteilung der Güter, der

  lebensnotwendigen, immer doch

Kämpfend dabei den Kampf bis aufs

  Messer, den um die Herrschaft.

Wie wir bereits sahen, ist Brechts „Das Manifest“ nicht einfach eine Wiederholung des KM in Versform; es ist mehr als das, es ist eine Erweiterung des Originals auf der Grundlage marxistischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis. Leser in späteren Zeiten werden ihre Erfahrungen ebenfalls in das Gedicht einbringen.

„Das Manifest“ erfuhr eine Reihe von Überarbeitungen. Nach seiner Rückkehr nach Berlin kam Brecht mehrmals auf den Entwurf zurück. Hanns Eisler bedauerte später, dass er und Feuchtwanger Brecht im Exil bei diesem Projekt entmutigt hatten. Er sagte: „Denn hätten wir heute ein Epos ‚Das kommunistische Manifest‘ von Brecht, wäre es als ein ganz seltenes Kunstwerk in die Geschichte der Menschheit eingegangen. (…) wir haben nicht überlegt, dass der Marxismus mit vielen Methoden, auf vielen Gebieten und in vielfältigen Feinheiten verbreitet werden muss. (…) vieles [wird] durch die Poetisierung anziehend, was in der platten Form des Alltags, in der schwierigen Situation des Klassenkampfes oder in den Lehrstuben der Gesellschaftswissenschaften als langweilig und grau empfunden wird. Durch Brecht wird es golden überglänzt.“

Das weltberühmte Gespenst, das einst Europa heimsuchte, lebt heute in der ganzen Welt, in der Kriege verheeren und die Mächtigen die Besitzlosen drangsalieren. Das Gespenst erklärt die Gründe für diese Verwüstung und das Elend. Es spricht in unzähligen Sprachen. Es ist und bleibt eine Bedrohung für die Herrschenden und ein Freund den Verdammten dieser Erde.

So ist die einzige Klasse,

  die Bourgeoisie zu besiegen

Und ihren Fessel gewordenen Staat zu

  zertrümmern befähigt, von allen

Nur die Arbeiterklasse. Sie ist es durch

  Wuchs und durch Lage.

/…/

Chaos erzeugen die Pläne

  der Bourgeoisie, je mehr Pläne

Desto mehr Chaos. Und Mangel

  entspringt aus Erzeugung, wo sie

  herrscht.

Tödlich geworden der riesigen

  Mehrzahl der Menschen, wird Regel.

Nicht mehr zu leben vermag unter ihr

  die Gesellschaft. Die neue

Klasse, das Proletariat, wird sie

  stürzen, das selber sie aufzog:

Selber musste sie aufziehn das riesige,

  das ihr das Grab gräbt.

Seine ist die Bewegung der Mehrzahl,

  und würde es herrschen

Wär es nicht Herrschaft mehr, sondern

  die Knechtung von Herrschaft.

Nur Unterdrückung würd da unter-

  drückt, denn das Proletariat muss

Unterste Schicht der Gesellschaft,

  um sich zu erheben, den ganzen

Bau der Gesellschaft zertrümmern

  mit all seinen oberen Schichten.

Abschütteln kann es die eigene

  Knechtschaft nur abschüttelnd alle

Knechtschaft aller.

Quellen: Rita Schober, „Brechts Umschrift des Kommunistischen Manifests“ in „Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft“, Mitteldeutscher Verlag Halle Leipzig, 1988.

Hans Bunge, „Das Manifest“ von Bertolt Brecht, Sinn und Form, 2.–3. Heft, 1963.

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"… sein Name ist Kommunismus", UZ vom 9. Februar 2018



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