Im kommenden Jahr gibt es einen unschönen runden Geburtstag: Die Berufsverbote werden 50. Der sogenannte „Radikalenerlass“ vom 28. Januar 1972 hatte schwere Folgen für die Betroffenen, darunter viele Mitglieder der DKP. Hunderte verloren ihre Arbeit oder wurden gar nicht erst eingestellt, wurden ausgegrenzt und bekamen Strafrenten, weil sie sich gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, das Wiedererstarken alter Nazis engagiert hatten – oder weil sie als Lehrer oder Briefträger das falsche Parteibuch in der Tasche hatten. Bis heute gibt es weder Entschädigung noch Entschuldigung für die Opfer des Kalten Krieges. Die Angst, Gesicht zu zeigen, sich mit Namen und Adresse zu engagieren, ist in vielen Köpfen geblieben. Sie wird heute angesichts von Repression und Überwachung kombiniert mit schlechten Jobaussichten auch bei jungen Menschen wieder größer. Das Logo „Sei keine Duckmaus!“ hat daher nicht nur Retroschick, sondern ist angesichts nötiger Kämpfe auch heute hochaktuell.
Die Betroffenen der Berufsverbote beginnen, den 50. Jahrestag des „Radikalenerlasses“ vorzubereiten. Sie wollen das Datum nutzen, um ihren Forderungen nach Rehabilitierung der Opfer und Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte Nachdruck zu verleihen. Der Auftakt ist gelungen: Die Vorsitzenden der Gewerkschaften ver.di, GEW und IG Metall und ihres Dachverbandes DGB konnten ebenso als Erstunterzeichner für eine Unterschriftenkampagne „Beenden Sie die Berufsverbotepolitik endlich offiziell“ gewonnen werden wie eine Reihe von Bundestagsabgeordneten der Partei „Die Linke“ und Künstlerinnen und Künstler. Auch Lena Kreymann, Bundesvorsitzende der SDAJ, und Patrik Köbele gehören zu den Erstunterzeichnern. Köbele als „Parteivorsitzender“ – die drei Buchstaben der maßgeblich von den Berufsverboten betroffenen Partei haben keinen Eingang in den Aufruf gefunden. Geschenkt. Um diesen Aufruf und seine Inhalte lohnt es zu ringen und bis zum 50. Jahrestag zigtausende Unterschriften zu sammeln – gegen staatliche Repression und Einschüchterung gestern und heute.
Aufruf
1972 – 2022: 50 Jahre Berufsverbote – Demokratische Grundrechte verteidigen!
Im Jahr 1969 versprach Bundeskanzler Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“. Im Widerspruch dazu verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Willy Brandt am 28. Januar 1972 den „Extremistenbeschluss“ oder sogenannten Radikalenerlass.
In den folgenden Jahren wurden ca. 3,5 Millionen Bewerber*innen für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Verfassungsschutz erhielt den Auftrag zu entscheiden, wer als „Radikaler“, als „Extremist“ oder als „Verfassungsfeind“ zu gelten hatte. Personen, die „nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht erst eingestellt.
Die Überprüfungen führten bundesweit zu etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Betroffen waren Kommunistinnen und Kommunisten, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. In Bayern traf es auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und in der Friedensbewegung engagierte Menschen.
Das schüchterte viele ein.
Mitglieder und Sympathisantinnen und Sympathisanten rechter Parteien und Gruppierungen wurden dagegen im öffentlichen Dienst geduldet und bei Bewerbungen fast nie abgelehnt. Um gegen nazistische Tendenzen vorzugehen, braucht es keinen neuen „Radikalenerlass“ oder „Extremistenbeschluss“, sondern die konsequente Umsetzung des Artikels 139 Grundgesetz und der Paragraphen 86 und 130 Strafgesetzbuch. Hiernach sind neonazistische Organisationen und die Verbreitung von Nazi- Gedankengut verboten. Die Berufsverbote stehen im Widerspruch zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und den Kernnormen des internationalen Arbeitsrechts, wie die ILO seit 1987 feststellt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte 1995 die Praxis der Berufsverbote.
Die nationale und internationale Solidaritätsbewegung, alle Menschen, die sich an diesem Kampf beteiligt haben, die Gewerkschaften und alle Initiativen gegen Berufsverbote haben sich um die Demokratie verdient gemacht. Ihre politische und materielle Unterstützung werden wir weiterhin brauchen.
Es ist an der Zeit,
- den „Radikalenerlass“ generell und bundesweit offiziell aufzuheben,
- alle Betroffenen vollumfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen,
- die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten.
Zu den Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern gehören:
Bejarano, Esther (Auschwitzüberlebende; Sängerin); Bsirske, Frank (ehemaliger ver.di-Vorsitzender); Däubler, Prof. Dr. Wolfgang (Arbeitsrechtler Uni Bremen); Degenhardt, Kai (Musiker); Gabelmann, Sylvia (Mitglied des Bundestags); Gerns, Willi (Rentner; ehemaliger Parteisekretär); Gössner, Dr. Rolf (Jurist, Publizist); Hofmann, Jörg (Vorsitzender der IG Metall); Hoffmann, Reiner (DGB-Vorsitzender); Hornung, Andrea (Geschäftsführung SDAJ); Hunko, Andrej (Mitglied des Bundestags); Jelpke, Ulla (Mitglied des Bundestags); Kerth, Cornelia (Bundesvorsitzende der VVN-BdA); Köbele, Patrik (Parteivorsitzender); Köditz, Kerstin (Mitglied des Bundestags); Kreymann Lena (SDAJ-Vorsitzende); Neu, Alexander (Mitglied des Bundestags); Pispers, Volker (Kabarettist); Tepe, Marlis (GEW-Vorsitzende); Urban, Dr. Hans-Jürgen (Geschäftsführendes Bundesvorstandsmitglied der IG Metall); Uthoff, Max (Kabarettist); Venske, Henning (Autor);Wader, Hannes (Liedermacher); Weber, Dr. Ellen (Rentnerin); Werneke, Frank (ver.di-Bundesvorsitzender); Zachcial, Michael (Sänger „Die Grenzgänger“) – Für die Betroffenen: Klaus Lipps (Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen die Berufsverbote), Silvia Gingold, Werner Siebler, Dorothea Vogt, Matthias Wietzer und Michael Csaszkóczy