Geht es um China, herrscht im Bürgertum Durcheinander bei Interessenlage und Bewertung. Am Montag verwendete zum Beispiel die „FAZ“ zwei Druckseiten darauf, ihre Leser zu verwirren. Unter der Überschrift „Chinas Sozialismus für die neue Ära“ schreibt der Sinologe Klaus Mühlhahn: „Die KP Ch ist heute ein Meisterwerk der Führung, Disziplin und Mobilisierung.“ Sein Text endet aber mit der Behauptung des Gegenteils: „Die Erfolge der Partei sind nicht von der Hand zu weisen. Aber wenn man die Geschichte der Partei mit ihren brutalen Machtkämpfen, ihrem Kontrollzwang und Propagandawahn berücksichtigt, dann entsteht der Eindruck einer politischen Organisation, die tief in ihrem Innern unsicher und ängstlich ist.“ Da hat der Universitätspräsident aus Friedrichshafen gerade noch die politisch korrekte Ideologiekurve genommen. Beschreibend ist das nicht, es handelt sich mehr um ein imperialistisches Destabilisierungsprogramm.
Beim Schwanken und Schlottern bleibt es aber nicht. Fast die gesamte Seite 1 des „FAZ“-Feuilletons widmet sich am selben Tag der Volksrepublik. Da schildert zum Beispiel der deutsche Gastprofessor an der Universität von Shantou in Südchina, Wolfgang Kubin, warum und wie er das „momentan übliche ‚China-Bashing‘“ hinter sich ließ und kürzlich an seine Uni zurückkehrte. Er fühle sich „momentan in der zweiten Quarantäne von Shantou nicht unwohl“. Genau genommen schildert er, wie die chinesische Staatssicherheit ihm half, die letzten Hindernisse lokaler Bürokraten zu überwinden.
Ähnlich locker beginnt auf derselben Seite Jan Brachmann die Besprechung eines Fotobandes von der siebten Tournee der Bamberger Symphoniker im Herbst 2019 durch China. Er entnimmt dem Buch ein Zitat des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz aus dem Jahr 1697, das lautet: „Wenn das so weitergeht, fürchte ich, dass wir bald auf jedem anerkennenswerten Gebiet den Chinesen unterlegen sein werden.“ Und weiter: „Jedenfalls scheint mir die Lage unserer hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermessliche wachsenden moralischen Verfalls so zu sein, dass es beinahe notwendig erscheint, dass man Missionare der Chinesen zu uns schickt.“ Auch Brachmann beendet seinen Text aber mit rituellem „Freiheit gegen Autoritäre“ und erhebt die Symphoniker zur Waffe: „Der Klang der Freiheit“ steht über seinem Artikel.
Das Entscheidende steht aber nicht im Bürgerfeuilleton, sondern zum Beispiel im „Spiegel“. Der meldet am Sonnabend: „China plant angeblich mehr als hundert neue Raketensilos“. Die britische „Daily Mail“ berichtet am Montag dieser Woche: „China bereitet sich darauf vor, das Vakuum, das Bidens vorzeitiger Rückzug in Afghanistan hinterlässt, mit einem Investitionsprogramm für seine ‚Seidenstraßen‘-Initiative in Höhe von 62 Milliarden US-Dollar zu füllen.“ Da ist die Frage, ob es um einen „systemischen Gegner“ (G 7) oder um eine „Herausforderung“ (EU) geht, entschieden.
Überhaupt aber ist auf dem Holzweg, wer wie Xi Jinping meint, der Aufstieg seines Landes habe etwas mit Sozialismus zu tun. Am Freitag vergangener Woche belehrt ihn Kommentator Peter Sturm in der „FAZ“ stellvertretend fürs deutsche Bürgerpressekorps, das sei nicht der Partei, sondern dem Fleiß und der Improvisationskunst der Chinesen zuzuschreiben – sowie: „Chinas Kommunisten wurden von Wirtschaft und Politik im westlichen Ausland über viele Jahre hofiert, aus politischen (Gegengewicht zur Sowjetunion) und ökonomischen (riesiger Markt) Motiven. Es ist also nicht zuletzt westlichem Unternehmergeist zu verdanken, dass der chinesische Unternehmergeist wiedererweckt worden ist.“
Westliche Unternehmer plus Symphoniker haben das heutige China gestaltet. Da können chinesische Missionare nicht mehr helfen.