Sozialproteste statt Impfpflichtdebatte: Eine Viertelmillion Beschäftigte des Gesundheitssektors in der Türkei streiken für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen

„Schulter an Schulter“

Angesichts von Währungsverfall und Corona-Krise sind in der Türkei Hunderttausende in den Ausstand getreten, Sozialproteste sorgen für Gänsehautstimmung. Die Resonanz ist auch überwältigend: Eine Viertelmillion Beschäftigte der Gesundheitsbranche sind in der vergangenen Woche dem Aufruf der Gewerkschaft für Gesundheits- und Sozialberufe SES gefolgt und landauf, landab in der Türkei im Streik für höhere Löhne, kürzere Schichtzeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Besonderen Unmut hatte hervorgerufen, dass der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca zuletzt Lohnanhebungen und höhere Renten allein für Ärzte angekündigt hatte, für den großen Rest der Belegschaften aber nicht. Dabei leiden gerade die Geringverdiener unter dem Kaufkraftverlust, welcher der Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamistisch-faschistischen Regierung aus AKP und MHP geschuldet ist.

Die türkische Lira hat in den vergangenen Wochen 27 Prozent an Wert verloren, die Inflationsrate ist über eine Marke von 21 Prozent gesprungen, so dass selbst einfache Grundnahrungsmittel für immer mehr Menschen nicht mehr bezahlbar sind. In Istanbul etwa hat sich das Leben nach Angaben der Stadtverwaltung innerhalb eines Jahres um mehr als 50 Prozent verteuert, Sonnenblumenöl sogar um rund 138 Prozent. Beobachter zweifeln die offiziellen Inflationszahlen an und gehen davon aus, dass die Teuerungen noch weit dramatischer sind.

Die Gewerkschaft SES fordert denn auch Lohnerhöhungen für das gesamte Personal – angepasst an die Inflationsrate im Land –, eine Begrenzung der Arbeitszeiten auf maximal 12 Stunden am Tag und Überstundenzuschläge. Der Ärztebund unterstützt die Sozialproteste an den Kliniken ausdrücklich.

Am Sonntag schließlich hat die linke Gewerkschaft DISK Plätze und Straßen in Istanbul mit ihren Fahnen in leuchtendes Rot getaucht. Tausende protestierten mit „Es reicht“ auf ihren Schildern angesichts von Lira-Krise und Massenverarmung gegen die Erdogan-Regierung. In der Hauptstadt Ankara wurden Berichten zufolge mindestens 90 Studenten der Initiative „Wir finden keinen Unterschlupf“ von der Polizei festgenommen. Sie hatten das autokratische Demonstrationsverbot des Gouverneurs nicht akzeptieren wollen und sich zum Sozialprotest versammelt, wie sie es seit diesem Sommer immer wieder angesichts hoher Mieten und fehlendem bezahlbarem Wohnraum tun.

DISK-Generalsekretär Adnan Serdaroglu warnte im linken Sender „Halk TV“: „Die Menschen verarmen.“ Er forderte eine deutliche Anhebung des monatlichen Mindestlohns von aktuell rund 3.600 Lira brutto (rund 230 Euro). Auf der Kundgebung in Istanbul machten die Demonstranten ihrem Unmut Luft: „Schulter an Schulter gegen die Sklaverei“, hallte die Parole laut über den Platz, die linke Hand zur Faust geballt und in den Himmel gestreckt.

Hülya Ulasoglu, Mitglied des SES-Zweigs in Izmir, verwies im Interview mit der linken türkischen Tageszeitung „Evrensel“ auf die gesellschaftsweite Bedeutung des Arbeitskampfes im Gesundheitssektor: „Eigentlich gibt es hier einen generellen Aufstand, nicht nur einen Streik im Gesundheitswesen. Wir können unseren Lebensunterhalt nicht bestreiten.“ Wohin sie auch komme, mit wem sie sich auch unterhalte, überall sei dieselbe Forderung nach Vereinigung von Ärzten und Arbeitern zu hören, die Forderung nach gemeinsamem Kampf. „Wer sich als Gewerkschaft aus diesem Zusammenschluss heraushält, wird verlieren.“

Ein Hohn ist dagegen das Gesäusel von Gesundheitsminister Koca, der 2021 zum Jahr der Gesundheitsberufe deklariert hatte: „Unsere medizinischen Fachkräfte werden immer wichtiger und verantwortungsvoller für unsere Gemeinden.“ Es sei „unsere Pflicht“, so Koca, das Gesundheitspersonal zu entlasten und die in der Corona-Pandemie erbrachten Opfer angemessen zu würdigen. Zum Jahresende steht fest: Die Erdogan-Regierung hat für die Beschäftigen im Gesundheitswesen nicht nur null Verbesserung gebracht, sondern auch den „Helden der Corona-Krise“ Verarmung wie Millionen Menschen des Landes. Der jüngste Spaltungsversuch hat das Fass zum Überlaufen gebracht und befeuert die Solidarität.

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"„Schulter an Schulter“", UZ vom 17. Dezember 2021



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