Die Anzahl der Covid-19-Infektionen ist höher als in der ersten Welle der Pandemie, der Anteil der schweren Krankheitsverläufe wächst. Dennoch wurde die uneingeschränkte Schulpflicht wochenlang von den Länderregierungen durchgedrückt. Die Diskussion, die sich daran entzündete, legt generelle Widersprüche in der Gesellschaft offen.
Das Thema Wechselunterricht brauchte ein Vierteljahr, um aus den Schulen den Weg an die Öffentlichkeit zu finden. In den Klassenräumen, Mensen, Fluren und oft auch auf den Schulhöfen können die Schülerinnen und Schüler den empfohlenen Mindestabstand von eineinhalb Metern nicht einhalten. Lehrerinnen und Lehrer hatten deshalb schon im August eine ungebremste Ausbreitung des Coronavirus befürchtet. Vielerorts planten Schulen daher veränderte Abläufe, bei denen jede Klasse in zwei Lerngruppen eingeteilt wird. Zur selben Zeit nutzt dann immer nur die Hälfte der Schülerschaft die Räume. Am Morgen und am Vormittag ginge dann nur die erste Lerngruppe jeder Klasse in den Unterricht und ginge mittags nach Hause. Am Nachmittag hätte die zweite Lerngruppe aus jeder Klasse Unterricht. Die Kinder aus verschiedenen Lerngruppen würden einander nicht begegnen und wenn ein Corona-Fall auftritt, müsste nur die betroffene Lerngruppe und nicht die ganze Klasse in Quarantäne. Manche Schulen bevorzugen ein Modell, bei dem die Lerngruppen statt jeden Mittag jede Woche wechseln. Damit nicht zu viel Unterrichtsstoff wegfällt, werden während der Zeit, in der die Lernenden eigentlich Unterricht hätten, zu Hause Aufgaben erledigt. Dem Infektionsschutz wäre Genüge getan und auch Lernende aus bildungsfernen Familien hätten die Chance, im Unterricht nicht zurückzubleiben.
Arbeitskraft hat Priorität
Dem Wechselunterricht setzte die „FAZ“ Anfang November ein unmissverständliches Nein entgegen: „Wenn Schulen und Kindertagesstätten geschlossen sind, stehen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Unternehmen nur eingeschränkt zur Verfügung“, stellte die Beraterin der Bundesregierung Veronika Grimm in dem Blatt klar. Kinderrechte dürfen also keine Schranke für die Ausbeutung der Arbeitskraft sein. Allerdings treibt die Gier des Kapitals nach Profit auch die Pandemieentwicklung. Für eine schrankenlose Schulöffnung riskiert das Kapital eine weitere vollständige Schließung der Schulen, wenn die Infektionen dort durch die Decke gehen.
Dem Geheiß des Kapitals folgend, zog die Obrigkeit einige anfänglich erteilte Genehmigungen für den Wechselunterricht zurück. Einzige Ausnahme war Delmenhorst. Öffentlichkeitswirksam setzte die Landesregierung Nordrhein-Westfalens das Verbot des Wechselunterrichts gegenüber der Stadt Solingen durch. Sie verbot der Stadt nichts anderes, als zu tun, was ihres Amtes ist, nämlich die sichere Benutzung der von ihr verwalteten Schulgebäude zu ermöglichen. Damit droht eine Ausbreitung der Corona-Seuche unter den Heranwachsenden, die schon einige Nachbarländer zum erneuten Betretungsverbot der Schulen gezwungen hat. Dies würde dem pädagogischen Ethos so krass widersprechen, dass bei den Staatsbediensteten in den Schulen mittlerweile das früher so unverbrüchliche Vertrauen in den „Rechts“staat schwindet.
In einer Unterrichtsstunde fällt mir ein weiterer Widerspruch ins Auge. Wenn ich durch beschlagene Brillengläser (wegen der Maske) das neue CO2-Messgerät erspähe, bleibt die farbige Darstellung der Luftqualität die ganze Unterrichtsstunde lang unter der Warnmarke. Das bestätigt, was wir Lehrerinnen und Lehrer schon wussten: Fenster zur rechten Zeit öffnen und schließen können schon Schulkinder. Was wirklich fehlt, sind nicht sinnige Gerätschaften, sondern eine zeitgemäße IT-Infrastruktur.
Im Bildungswesen, einem Bereich der Reproduktion, der durch hohe Fixkosten und lange Umschlagszeit gekennzeichnet ist, wären solche notwendigen Investitionen eine staatliche Aufgabe gewesen. Die Ausgaben durch den Staat hätten zumindest kurzfristig den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit geschmälert und möglicherweise dem Monopolkapital der BRD den Weg zum „Exportweltmeister“ versperrt. Um die Abgaben an den Staat zu senken, sind diese Investitionen flächendeckend unterblieben.
Mit 5G, höre ich, verhundertfache sich die Menge der übertragbaren Daten. In der Küstenstadt Busan in Südkorea halbiert das dortige Goethe-Institut die Lerngruppen. Die Hälfte der Lernenden bleibt zu Hause und macht im Live-Stream via Internet beim Präsenzunterricht mit. Dadurch kommen alle im Deutschunterricht voran. Auch in der Hansestadt Bremen plant ein Gymnasium solche Live-Streams, damit die Belegung der Unterrichtsräume halbiert und so der Mindestabstand von 1,50 Meter eingehalten werden kann. Anderswo – praktisch überall – reicht die Datenleistung der schulischen Server für das Live-Streaming des Unterrichts bei weitem nicht aus. Fernunterricht ist ein schöner Traum der Sozialwissenschaftler, Juristen und Kaufleute, die in den Bundesländern den Schulunterricht verantworten. Ein einziger der 16 Bildungsministerinnen und -minister hat eine Ausbildung als Lehrer und unterrichtete wenige Jahre lang an einem elitären Gymnasium in Hamburg.
In wessen Interesse der bürgerliche Staat herrscht, wurde bereits benannt. Im April beschrieb ich im „Berliner Anstoß“, der Zeitung der DKP Berlin, wie die Deckelung der kommunalen Haushalte (der zwölf Bezirke als Schulträger) im Interesse der „Schwarzen Null“ Jahrzehnte lang so weit getrieben wurde, dass Schulen nicht nur massenweise überbelegt sind, sondern infolge von Schäden und Schadstoffen nur noch zum Teil genutzt werden können. Da die vorhandenen Unterrichtsräume auch ohne Corona zu klein sind und oft doppelt genutzt werden müssen – vormittags Unterricht, danach Mittagessen und später Arbeitsgemeinschaften oder Hort – ist die Einhaltung eines Mindestabstands in keinem Klassenraum möglich und die Maskenpflicht gilt durchgehend. Das bedeutet an den Ganztagsschulen von 8 oder 9 Uhr bis 16 Uhr. Die unzumutbare Dauer der Maskenpflicht wäre unnötig, wenn genügend Kinder und Jugendliche auf Covid-19 getestet werden könnten. Aber die Testkapazitäten reichen auch im Monat 9 der Pandemie in der BRD nicht aus. Die Zahl der wöchentlichen Tests wurde vergangene Woche sogar um etwa 10 Prozent reduziert, wie die Tageszeitung „junge Welt“ berichtete.
Wie zu Kaisers Zeiten
Marktradikale Ideologen in den Regierungen predigten, der Markt würde alle Angebotsprobleme lösen, dünnten die Gesundheitsämter aus, übergaben die Kontrolle des Masern-Impfstatus der Kinder den Lehrkräften (!) und verantworteten schlussendlich die Ausbreitung der Covid-19-Seuche in der jungen Generation. Die Mangelwirtschaft hat auch dazu geführt, dass die Lernenden einander nicht berühren, kein Material austauschen und keine Arbeitsergebnisse weitergeben dürfen. Moderne Unterrichtswissenschaft fordert aber handlungsbezogenes Lernen, bei dem die Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen und selbst aktiv sind. Ich dagegen unterrichte nun wie zu Kaisers Zeiten, damit sich die Lernenden nicht gegenseitig anstecken.
Die meisten Eltern können seit der Schließung der Schulen im Frühjahr ein Lied über fehlende Kenntnisse der Kinder und Jugendlichen im Umgang mit funktionaler Hard- und Software singen. Hauptursache ist, dass diese in den Schulen, sofern überhaupt vorhanden, nur von wenigen Lernenden gleichzeitig genutzt werden können. Die Schere zwischen einkommensstarken („bildungsnahen“) und einkommensschwachen („bildungsfernen“) Familien hat sich seitdem noch weiter geöffnet, weil viele Lernende zu Hause nicht genügend Hilfe durch Angehörige bekommen. Der Widerspruch zwischen Arm und Reich wird schärfer, da im Laufe der Pandemie ergänzende Lernangebote am Nachmittag oder Abend weggefallen sind.
Strudel der Selbstzweifel
Auf oftmals dramatische Weise führen die Systemwidersprüche zu Konflikten, die scheinbar nichts mit Volkswirtschaft und Fiskalpolitik zu tun haben, nämlich dann, wenn sie ungebremst auf die Entwicklung der kindlichen oder jugendlichen Psyche durchschlagen. Insbesondere die Identitätsfindung der Heranwachsenden kann dann nachhaltig beeinflusst werden. Stressfaktoren wie Störungen und Unterbrechungen durch Hardware, die für die Aufgaben ungeeignet ist, und fehlende Informatikkenntnisse müssten in den Familien abgefedert werden. Wo das nicht gelingt, geben auch leistungsbereite Kinder auf, reflektieren den Widerspruch zwischen Wollen und ungeeigneten Lernbedingungen altersbedingt nicht als solchen, sondern halten sich selbst für unfähig, dumm und schließlich auch faul. Hier liegt die Ursache der Schuldistanz.
„Mit jeder Woche im Homeschooling verliere ich mehr und mehr Schülerinnen und Schüler“, twitterte die Junge GEW Berlin im Mai 2020 die Erfahrungen einer Kollegin aus Berlin. Sie fehle den Jugendlichen nicht nur als Lehrerin, sondern auch als „beste Freundin, Therapeutin, Ärztin, Dr. Sommer, Sozialarbeiterin und Mediatorin“. Negatives Selbsterleben war eine Massenerscheinung im ersten Vierteljahr der Corona-Pandemie in der BRD. Erst Wochen nach der Wiedereröffnung der Schulen waren meine Schülerinnen und Schüler aus dem Strudel der Selbstzweifel wieder herausgewachsen und das ist nicht allen Kindern gelungen.
Der Widerspruch zwischen der technologischen Entwicklung und ihrer Zugänglichkeit an den Schulen ist für Pädagoginnen und Pädagogen ein altgewohnter Missstand. Aber seine Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die künftigen Arbeitskräfte, zeigen deutlich den Antagonismus – die Unlösbarkeit – der Systemwidersprüche. Als ob es kein Morgen gäbe, gehen hohe Milliardenbeträge der Steuerzahlenden an Reise-, Flugzeug-, Auto- und Rüstungskonzerne, während die Schulen billig abgespeist werden. Bei allem Gerede der Herrschenden, dass widerstreitende Rechte wie das auf Bildung und das auf Gesundheit gegeneinander abgewogen werden müssten, gibt die Corona-Pandemie den Blick auf den beinharten Klassenkampf frei, dessen Folge die genannten Widersprüche sind. Wie nachhaltig die Folgen für die Gesundheit sein können, illustrieren vier Beispiele:
Erstens und zweitens (Kinderschutz): Die meisten Schülerinnen und Schüler an Brennpunktschulen in den Großstädten benutzen das Smartphone für das Lesen und Herunterladen der Texte und Aufgaben. An den Schulen fiel auf, dass sie die Materialien nicht ausdrucken und auch Lernvideos am kleinen Handybildschirm schauen. Schäden durch Überanstrengung der Augen sowie Verspannungen in Nacken und Rücken sind die Folge, warnt der Spitzenverband der gesetzlichen Unfallkassen. Der Verband empfiehlt auch, die Mund-Nase-Bedeckung nur zwei, höchstens drei Stunden lang zu tragen und dann 30 Minuten lang maskenfrei zu atmen. Schülerinnen und Schüler kommen auf die doppelte und im Ganztagsbetrieb der Schule dreifache Tragezeit. Auf Seiten der Bildungspolitik blanke Ignoranz.
Drittens (Infektionsschutz): Mit dem Verbot des Wechselunterrichts haben die Landesregierungen die eindeutige Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI) ignoriert, ab einer Inzidenz von 50 positiven Corona-Tests pro 100.000 Einwohner die Schulklassen zu halbieren. Nun werden in den deutschen Städten schon viermal mehr Menschen mit dem Coronavirus infiziert und in Regionen mit junger Altersstruktur liegt der Wert um das Siebenfache höher. Ein schreiender Widerspruch, der aber nicht den Blick darauf verstellen sollte, dass die gesamte Bevölkerung betroffen ist. Denn Gesundheitsämter schicken Kinder und Jugendliche als direkte Kontaktpersonen von positiv getesteten Covid-19-Patienten selbst dann nicht zum Test, wenn die eigenen Eltern positiv getestet worden sind. Da gerade diejenigen nicht getestet werden, die dem größten Infektionsrisiko ausgesetzt waren, können die Amtsärzte und Gesundheitsämter eine unkontrollierte Infektionsausbreitung gar nicht verhindern.
Viertens (Gesundheitsschutz): Die Anfrage der UZ-Redaktion bei den Bildungsministerien der Bundesländer erbrachte sieben (von 16) Antworten. Allen ist gemeinsam, dass nicht erfasst wird, wie viele der mit Covid-19 infizierten Arbeitenden in Schulen, Kitas, Horten und Ferienlagern in Kliniken hospitalisiert, dort intensivmedizinisch behandelt und beatmet wurden oder gestorben sind. Obwohl das Infektionsschutzgesetz die Erfassung dieser Daten vorsieht, erhält das RKI die Angaben nur aus der Hälfte der Kliniken, kann daher nur Mindestangaben veröffentlichen und dies auch noch so schlampig, dass die Zahl der Verstorbenen am 14. November von 9 auf 8 fiel. Die statistische Schluderei hat den Ausspruch der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres, die Schulen seien „die sichersten Orte“, erst ermöglicht.
Unser Autor ist Lehrer an einer Berliner Sekundarschule