Peter Millers Dokumentarfilm „Sacco und Vanzetti“

Schuldig, weil Feind

Von Hans-Günther Dicks

Die USA als Land von „freedom & democracy“ und unbegrenzten Möglichkeiten, das war wohl ihr Traum, als Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, zwei von vielen jungen Italienern, 1908 dorthin auswanderten. Knapp 20 Jahre später, am 23. August 1927, starben beide in Massachusetts auf dem Elektrischen Stuhl. Schlicht „Sacco und Vanzetti“ hieß 1971 ein Spielfilm, den der Italiener Giuliano Montaldo über sie drehte, und so heißt auch ein Dokumentarfilm des US-Regisseurs Peter Miller, der zum 80. Jahrestag ihrer Hinrichtung entstand und nun mit zehnjähriger Verspätung von einem rührigen Kleinverleih in deutsche Kinos gebracht wird. Er zeigt, wie eine Justiz, die von Rassismus und nach der Revolution in Russland auch vom „big red scare“ (Kommunistenfurcht) geprägt war, den beiden Italienern mit allen juristischen Unmöglichkeiten einen Raubmord andichtete. Da wurden Beweisstücke vertauscht, Akten unterdrückt, Zeugen diskriminiert und Verteidigeranträge pauschal abgewiesen. Richter und Staatsanwälte, die durch offen rassistische Äußerungen aufgefallen waren, erklärten sich selbst für nicht befangen.

Solche Ungeheuerlichkeiten passen in ein Gesellschaftssystem, in dem einige Bosse der Stahl- und Schwerindustrie sich unvorstellbare Reichtümer erwerben konnten auf Kosten der Arbeiter, die meist ohne Arbeitsschutz und Krankenversicherung gefährliche Arbeit leisten mussten. So auch die beiden italienischen Einwanderer, die bald ihre Illusionen über die USA und ihre Institutionen verloren und sich dem in Boston agierenden Anarchisten Luigi Galleani annäherten. Der rief auch zu Gewaltaktionen gegen die „kapitalistischen Unterdrücker“ auf, aber eine konkrete Beteiligung an dessen Attentaten wurde den beiden nie unterstellt, und Montaldo schildert Vanzetti in Millers Film sogar als überzeugten Christen, der Jesus als Revolutionär bewunderte.

Im Mai 1920 wurden die beiden Arbeiter verhaftet. Vorgeworfen wurde ihnen die Beteiligung am Raubüberfall auf Frederick Parmenter, den Lohnbuchhalter einer Schuhfabrik, und seinen Begleiter, die beide erschossen wurden. Der Verdacht fiel zunächst auf die berüchtigte Morelli-Bande, aber als Anhänger einer anarchistischen Gruppe passten Sacco und Vanzetti als „Täter“ besser in die Wahnvorstellung von einer kommunistischen Verschwörung, und das wurde ihnen zum Verhängnis. Trotz zahlloser Verfahrensfehler und Ungereimtheiten sprachen die Geschworenen sie im Juli 1921 schuldig. Selbst weltweite Proteste und etliche Revisionsanträge der Verteidigung konnten nur den Termin der Hinrichtung verzögern. Richter Webster Thayer über Vanzetti: „Dieser Mann, auch wenn er die ihm zugeschriebene Tat vielleicht nicht begangen hat, ist trotzdem schuldig, weil er ein Feind unserer bestehenden Institutionen ist.“

Hatte es schon während der langen Haftzeit in vielen Städten Aktionen von Künstlern, Malern und prominenten Intellektuellen und Kundgebungen für ihre Freilassung gegeben, so schwoll nun weltweit die Protestbewegung, vielfach initiiert von Kommunisten oder anderen linken Gruppen, auf Millionen an, wie Miller in beeindruckenden Archivaufnahmen belegt. Jedoch für den damaligen Gouverneur von Massachusetts, Alvan T. Fuller, der später auch ein Gnadengesuch Vanzettis ablehnte, dienten diese Massenkundgebungen nur als weiterer Beweis für „eine Verschwörung gegen die Sicherheit der USA“.

Miller, der 2000 auch einen einstündigen Dokumentarfilm über die „Internationale“ als weltweite Hymne der Sozialisten vorlegte, hat vier Jahre an „Sacco und Vanzetti“ recherchiert und gearbeitet, und so hat er viel zusagen. Was auch heißt, dass sein faktenreicher Film zu einem großen Teil aus „Talking Heads“, also sprechenden Köpfen besteht: Interviews mit Historikern, Bürgerrechts-Aktivisten, ein paar noch lebenden Zeitzeugen sowie Verwandten der beiden. Sein ergreifendstes Material aber sind die Briefe von Sacco und Vanzetti aus der Todeszelle an ihre Verwandten, für deren Verlesung er mit Tony Shalhoub und John Turturro sogar Hollywoodstars als Sprecher gewann. Millers gründliche Recherche bringt auch Jeannette Parmenter, die Tochter des erschossenen Buchhalters, vor die Kamera; auch sie kann angesichts der dubiosen Beweisführung der Anklage auf die Frage nach der Schuld der zwei Angeklagten nur hilflos antworten: „Jemand muss es ja gewesen sein.“

Millers Film zeichnet zwar minutiös die Etappen und Wendungen in Schicksal und Prozess seiner beiden Protagonisten nach, bleibt aber als Linker und Internationalist dabei nicht stehen. Er macht deutlich, dass Rassismus und Kommunistenhass in den USA nach wie vor blühen. In einem Interview erklärte er dazu: „Der Fall Sacco und Vanzetti hat auch 80 Jahre nach seinem tragischen Abschluss den Amerikanern noch dringende Lektionen zu vermitteln. Wie zu Zeiten des ‚red scare‘ damals haben auch die heutigen Amerikaner der Angst und dem Hurrapatriotismus erlaubt, unsere zivilen Rechte zu beschneiden und unser Rechtssystem zu kompromittieren.“ Sacco und Vanzetti wurden immerhin 1976 durch Massachusetts-Gouverneur Michael S. Dukakis in aller Form rehabilitiert, doch der letzte Teil von Millers 81-minütigem Film führt in rascher Folge zahlreiche Beispiele an, die belegen, wie ungebrochen die USA als Weltpolizist das Recht brechen. Man muss nur an die ähnlich gelagerten Fälle von Leonard Peltier oder Mumia Abu Jamal denken, um eine fast lückenlose Linie zu den aktuellen Ereignissen in Charlotteville und US-Präsident Trumps Freundlichkeiten gegenüber dem Ku-Klux-Klan zu ziehen.

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"Schuldig, weil Feind", UZ vom 25. August 2017



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