Von den Folgen der Sanktionen ist nicht Russland allein betroffen

Schüsse in alle Knie

Es läuft nicht nach Plan. Am vergangenen Freitag kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen „ein weiteres Sanktionspaket“ an – das vierte. Hätten die drei vorherigen gewirkt, wäre es nicht nötig. Seit dem 24. Februar sind die deutschen Leitmedien voll von der Erwartung des baldigen Wirkens der vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen. Aber weder hat sich die russische Bevölkerung gegen den Krieg erhoben noch ist die Wirtschaft bislang zusammengebrochen – und es hat sich auch kein Brutus gefunden, um den vermeintlichen Alleinherrscher aller Russen zu töten.

Angeführt von den USA hat sich der NATO-Block daher entschlossen, weitere Sanktionen zu verhängen. Am 8. März unterzeichnete US-Präsident Joseph Biden eine „Executive Order“, mit der die Einfuhr von Öl, verflüssigtem Erdgas, Kohle und Kohleprodukten aus Russland bei Androhung von Strafen verboten ist – allen an solchen Geschäften Beteiligten wurde eine Frist von 45 Tagen gesetzt, um bereits vereinbarte Lieferungen noch abzuwickeln.

Nicht nur die Preise für Öl und Gas sind seitdem förmlich explodiert. Unter der Überschrift „Fuel, food and fury“ berichtete der Londoner „Economist“ in seiner Ausgabe vom 12. März vom „größten Schock für den Roh- und Grundstoffmarkt seit 1973 und der schlimmsten Unterbrechung der Weizenversorgung seit dem Ersten Weltkrieg“. Die Sanktionspakete, die die USA und EU in immer dichterer Folge Richtung Russland absenden, ähneln einem Kugelhagel, der viele Knie trifft – die des Gegners, die eigenen und die Unbeteiligter. Die zunehmend verzweifelt anmutenden Versuche, Russland vollständig von allen Märkten zu isolieren, führen nicht nur bei Öl, Gas und Weizen zu unerwünschten Nebenwirkungen. Explodiert sind – weil Russland eben auch hier einer der Hauptexporteure ist – auch die Preise für eine ganze Reihe wichtiger Metalle. Der Preis für Nickel, ohne das Elektrofahrzeuge nicht gebaut werden können, ist dermaßen angestiegen, dass die Londoner Warenbörsen den Handel damit vorübergehend eingestellt haben.

Nach Abstimmungen mit Washington durfte die EU verkünden, dass die Hähne für Öl- und Gaslieferungen Russlands nach Mittel- und Westeuropa vorläufig nicht zugedreht und die entsprechenden Lieferungen auch korrekt bezahlt werden. Das verringert im Übrigen auch die Milliardenzahlungen, die jetzt zur Stützung der ukrainischen Wirtschaft und des ukrainischen Staatshaushalts aus der EU nach Kiew fließen. Hätten sich Deutschland und der Rest der EU entschieden, dem Beispiel der USA zu folgen und Gas- und Ölhähne zuzudrehen, wären auch die Transitgebühren für die Durchleitung russischen Gases durch die Ukraine versiegt. Die Angst in Berlin, Paris und den anderen westeuropäischen Hauptstädten vor dem Zudrehen des Gashahns ist verständlich. Es geht nicht nur um Heizungen, wie die „FAZ“ am 12. März kühl erläuterte: „Wer da nur an seine Wohlfühltemperatur im Wohnzimmer oder unter der Dusche denkt, könnte im nächsten Winter ganz kalt erwischt werden – ohne Arbeitsplatz (…) Schon legen Stahlwerke Betriebe still, rechnen Transporteure vor, wie schnell sie in rote Zahlen rutschen. Reißen dadurch Lieferketten, sind die ökonomischen Effekte kaum zu kalkulieren.“

In dieser neuen Welt der politischen, militärischen und ökonomischen Unsicherheiten bleiben zwei Dinge sicher. Erstens wird mit Sicherheit auch im nächsten Winter der geografisch kompakte Block von Staaten, die sich dem westlichen Sanktionsregime nicht unterworfen haben und der bis auf Westeuropa praktisch den gesamten eurasischen Kontinent umfasst – also neben Russland China, Indien, Pakistan, Iran, Irak, Vietnam und so weiter –, über russisches Gas und Öl zum Heizen der Wohnungen und zur Aufrechterhaltung industrieller Prozesse verfügen. Zweitens aber werden den höchsten Preis dieses Wirtschaftskriegs diejenigen Länder zahlen, die für die Ernährung ihrer Bevölkerung auf die nun ausfallenden oder massiv teurer werdenden Lieferungen russischen und ukrainischen Weizens angewiesen sind.

Die Sanktionswirkungen für Afrika und andere Länder, die den Weizen der Ukraine und Russlands dringend brauchen, werden gravierend sein – und jeder weiß es. Also beginnt bereits jetzt der Kampf um die Interpretation, wer für die bevorstehenden Hungersnöte verantwortlich sei. „Die Invasion“, schrieb der „Economist“, würde „Konsumenten im Mittleren Osten und Afrika“ hart treffen. Die Welternährungsorganisation FAO weigerte sich, diese Sprachregelung zu übernehmen. Frustriert klagte die „FAZ“ am 12. März über „Pekings langen Arm“ – die Weigerung, die Schuld an den „Konsequenzen enormer Preissteigerungen“ nach Moskau zu delegieren, werfe „ein Schlaglicht auf die heutigen Machtverhältnisse“. Die Vermittlung, dass die Sanktionswut keine unvermeidliche, sondern politisch vom Westen gewollte Folge der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Kiew ist, gehört zu den schweren Aufgaben, vor denen die Linke auch hierzulande steht.

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"Schüsse in alle Knie", UZ vom 18. März 2022



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