Der Pianist und Komponist Stefan Litwin, Jahrgang 1960, hat sich immer wieder mit politischen Fragen kompositorisch auseinandergesetzt, etwa mit dem faschistischen Putsch in Chile, mit der „Hölle“ Auschwitz nach einem autobiographisch fundierten Roman von Imre Kertész oder mit dem Wechselspiel von Unterdrückung und Unterwerfung in dem Musiktheaterstück „Nacht mit Gästen“ (Peter Weiss), das in der UZ bereits vorgestellt wurde.
Literarisch hochgebildet, mit Gespür für das poetische Wort, hat sich Litwin nun nach Edgar Allan Poe auch mit Jean Paul beschäftigt. Dieser war in der Goethezeit einer der meistgelesenen Autoren. Auf Jean Paul ist Litwin über Schumann und dessen Lieblingsautor gekommen, auf den sich Schumann in mehreren Werken bezieht. Schumanns Polarität „Florestan“ und „Eusebius“ spiegelt nicht zuletzt die zwischen dem weltfremden Walt und dem pragmatischen Vult wider. Jean Paul erzählt in seinem Fragment gebliebenen Roman von 1804/1805 die Geschichte des dichtenden Notars Walt, der eine an die Erfüllung allerlei seltsamer Aufgaben geknüpfte Erbschaft antritt, seines einige Minuten jüngeren Zwillingsbruders Vult, der, reisender Flötist geworden, nach Jahren aus der Fremde heimkehrt, und beider Liebe zur kleinadligen Wina.
Litwin erhielt den ersten Kompositionsauftrag, den die Musikfestspiele Saar vergaben. Seit 2018 entwickelt die neue Intendanz ein offeneres, vielfältigeres Profil. Die etwa 500 Seiten des Romans hat Holger Schröder, derzeit Dramaturg am Staatstheater Braunschweig, zu einem Libretto verdichtet, das die wesentlichen Elemente der Handlung auf das Konzertpodium als imaginäre Theaterbühne bringt. Ohne dass die vielen Stränge ganz verschwänden, ist der Leitfaden die Entwicklung der Dreiecksbeziehung zwischen den Brüdern und Wina. Litwin hat neben der Alliteration der Namen auch entdeckt, dass alle jeweils vier Buchstaben haben. Das führte ihn fast automatisch zur Konstruktion einer Zwölftonreihe mit zwei Viertonmotiven für die Zwillinge und einem kontrastierenden für Wina, alle leitmotivisch verwendet.
Litwin greift die Traditionslinie des heute fast vergessenen Melodrams auf, das freilich als Technik etwa im Rap allgegenwärtig ist, und erweitert dieses zu einer Art imaginärem Musiktheater, gar einer „verkappten Oper“ (Litwin) mit Vorspielen, Nachspiel, Intermezzi, Rezitativen und Arien. Der Sprecher, der Schauspieler Ulrich Noethen, vermittelt den Text präzise. Speziell auf ihn und das virtuose GrauSchumacher Piano Duo schnitt Litwin das Werk zu. Der Gefahr, dass über die lange Dauer der Klang doch etwas Schwarz-Weiß werden könnte, begegnet Litwin einerseits mit abwechslungsreichen, pointierten musikalischen Gestalten, andrerseits mit einer Erweiterung des klassischen Klavierklangs. Einer der Flügel wird „präpariert“, mit „E-Bow“ oder andern Gegenständen, und auch von innen direkt auf den Saiten gezupft oder gestrichen – was laut Angaben eines der Pianisten gelegentlich zu Blasen und blutigen Fingern beim Proben führte: Musik produzieren ist auch materielle Arbeit, wiewohl „attraktive“ (Marx). Ein Toy Piano mit sozusagen veganem, synthetischem Klavierklang steht symbolisch für Vults Kindheit. Crotales schließlich, ein Satz kleiner Glöckchen, bringen eine weitere Klangfarbendimension und verweisen auf die Maiglöckchen und andere Blumen, die im Text leitmotivisch vorkommen.
Litwins Werk mit seinem anspruchsvollen ideellen Gehalt, komplexer Konstruktion und schroffem, dissonantem Ton biedert sich nicht beim Publikum an. Es gibt aber viele schöne Stellen, sogar parodistische, unterhaltsam-vergnügliche Momente wie etwa den, wo jeweils einer der beiden Pianisten um den anderen herum- und in die Tasten greift, spieltechnisch nicht nötig, aber sinnfälliges Symbol der dialektischen Verbindung der beiden Zwillinge. Und die Freude der beiden virtuosen Pianisten und des vorzüglichen Sprechers am Spielen und Vortragen teilt sich dem Publikum mit. Trotz der Dauer von 90 + 60 Minuten blieben alle in dem wegen des Corona-Notstandsregimes nur zahnlückenhaft vollbesetzten Saal und hörten gespannt zu.
Die Verbindung zwischen dem Aufführungsort mit eindrucksvollen Industrieresten samt riesigen, fast monströsen Maschinen als sozialer Form – wie in der ehemaligen Gebläsehalle, in der ein Podium und Bestuhlung aufgebaut waren – und imaginärem Musiktheater als künstlerischem Inhalt ist vielversprechend. Wenn schon Deindustrialisierung, dann richtig. Zu verzichten ist auf eine gewinngesteuerte Ökonomie mit „Wachstum“ als Fetisch ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Allgemeinheit. Stattdessen auszubauen sind eine am Allgemeininteresse orientierte Wirtschaft, Kultur und Kunst. Einen Ansatz dazu hier im Rahmen der Musikfestspiele Saar bietet ein historisches Museum auf der Höhe der Zeit, mit sachlichen Zeitzeugen der Vergangenheit und einer höchst gegenwärtigen, aktuellen Kunst, die ihrerseits das Erbe fortsetzt.
Im Grenzland zwischen den beiden führenden Nationalstaaten der EU zeigt sich damit auch etwas von einer möglichen besseren Zukunft Europas über die Schranken der EU hinaus. Sie liegt jenseits der absurden Weltmachtansprüche der EU und der damit verbundenen neokolonialen „Weltordnungskriege“. Diese sind nicht zu gewinnen; durch sie gewinnen wenige und fast alle verlieren, oft genug das Leben. Schon die Kriegsvorbereitungen und die bereits laufenden oder bereits verlorenen Kriege zwischen Hindukusch und Sahel zerstören noch schlimmer und schneller als die Klimaverschlechterung, die sich durch Nichtstun oder das Falsche tun Regierender und Herrschender beschleunigt. Demgegenüber hätte Europa eine Chance, sich auf die Stellung einer nicht ökonomischen oder gar militärischen, sondern kulturellen und künstlerischen Weltmacht zu beschränken, die auch andere Weltmächte problemlos neben sich dulden kann. Muster dafür sind etwa das antike Griechenland nach dem Fall des Alexander-Reichs und im Rahmen des Römischen Reichs oder die seit 1847/1848 auf Kriege verzichtende Schweiz mit Tourismus und besonderen Produkten zwischen Hochlandmilchschokolade und Hochleistungsuhren. Eine solche „Verschweizerung“ Europas, wäre eine Chance. Die Bundesrepublik Deutschland wie Europa überhaupt hätten da mit der Musik der Welt viel Gutes zu bieten, von der weltweit einmaligen hochfeudalen melodischen Mehrstimmigkeit über Lasso, Purcell, Bach, Beethoven, Verdi, Mahler, Henze, Nono bis zu Litwins Monodrama.